Wenn es boomt, erinnert sich kaum jemand mehr an die Krisen der Vergangenheit. Auch Baukultur und Innovationen tun sich in Boom-Zeiten mitunter schwerer. Genauso war es in diesem Jahr auf der Expo Real.
Die Expo Real 2015 beginnt für mich bereits am Sonntag mit der Entscheidung, auf dem Oktoberfest keine kurzen Lederhosen zu tragen. Eine dunkelblaue Strickjacke mit Reißverschluss muss die Brücke zur nostalgisch bajuvarischen (Ver-) Kleiderordnung herstellen. „Viii va Co loo nii a!“ Ich komme nicht rein in den Freudentaumel und werde auf meiner Flucht vor der Spaßgesellschaft von mitreißenden Trommlern abgelenkt. Musiker aus Angola und Sambia spielen vor der Wiesn groß auf und animieren Touristen in Dirndl und Lederhosen zum ausgelassenen Mittanzen. So kann das auch gehen, Ankommenskultur.
Am Montag steige ich, wie die meisten, am Morgen bereits durchschwitzt aus der überhitzten U-Bahn und springe auf das alljährliche Messekarussell, aus dem ich erst leicht schwindelig und heiser am Mittwoch in den Flieger zurück nach Berlin wechsle. Bis dahin folgt ein Gesprächspartner dem anderen. Alle haben unterschiedliche Themen, widerstreitende Blickwinkel und eigene Interessen. Sie zusammen zeichnen ein vielstimmiges Bild vom Zustand einer Branche, in der Baukultur erklärt und Work-Life-Balance gerechtfertigt werden muss.
In Halle A2 begründet Reiner Nagel, Präsident der Bundesstiftung Baukultur, warum die Stiftung überhaupt auf der Messe vertreten ist („Habt ihr das nötig?“). Auf dem Podium stellt er „Erfolg durch Baukultur in der Immobilienwirtschaft“ zur Diskussion. Matthias Sauerbruch beginnt bei seiner Definition von Baukultur bei Vitruvs Firmitas und vergisst auch die Prozesskultur nicht. Achim Nagel spricht von guter Architektur als Krisenvorsorge. Deutlich wird das Thema durch eines meiner Lieblingsnachschlagewerke: das „Handbuch der Baukultur“.
sind darin über 2.000 Stiftungen, Universitäten, Hochschulen, Institute, Akademien, Museen, Archive, Galerien, Vereine, Initiativen, Verlage, Zeitschriften, Internetdienste, Bund, Länder, Kommunen, Gestaltungsbeiräte, Kammern, Verbände und Preise vorgestellt, die sich zum Ziel gesetzt haben, Baukultur in Deutschland zu befördern. Ein reiches, kräftiges, offenes Netzwerk, verwurzelt und verbunden mit vielen gesellschaftlichen Gruppen. Was kann mehr Zuversicht vermitteln als dieses riesige gesellschaftliche Bündnis für Baukultur? Aber wo findet sich das auf der Messe wieder?
Beim Abendessen im Keller der Bayernpost verweist Wolfgang Tiefensee als thüringischer Wirtschaftsminister wie zur Bestätigung auf das Jahr 2019: Dann wird das Bauhaus 100 Jahre alt und die Stifterfiguren der Baukultur groß gefeiert! Trotzdem sehen für Christoph Gröner die heutigen Häuser kaum anders aus als das Haus seiner Kindheit. Er fragt zu Recht, womit sich die Immobilienentwicklung denn in den letzten Jahrzehnten eigentlich beschäftigt hat?
Am Dienstag fragt Nadine Heinrich, Journalistin für das „BauNetz“: „Wie geht Immobilienmesse, und welche Rolle spielt hier Baukultur?“ Mmhh, „Wie zufrieden sind Sie mit der Baukultur auf der Expo?“ steht jedenfalls nicht auf dem Ausstellerzufriedenheitsfragebogen der Messe. Hier sind vor allem große Händler und Entwickler, Netzwerker, Schnelldreher, institutionelle Käufer und Verkäufer, große Fonds und Versicherungen, die mit den dicken Hosen auf den Ozeantankern, unterwegs. Baukultur steht für diese Hochseekapitäne an der Isar nicht ganz oben auf der Agenda. Denn die Branche ist in einem Rausch. Die niedrigen Zinsen, eine leidliche Wirtschaftsentwicklung, langfristiger Zuzug in die Städte: Der Wind steht günstig, alle Segel sind gesetzt, vor uns das offene Meer. Was kann da noch schiefgehen?!
Bundesbauministerin Barbara Hendricks spricht mittlerweile nicht mehr von 250.000, sondern von mindestens 350.000 neuen Wohnungen, die, befeuert durch die gestiegene Zahl an Flüchtlingen, pro Jahr in Deutschland benötigt werden. Auch neue Büros werden wieder gebraucht, wie Bulwiengesa in ihrer Studie zu Berlin im Wandel feststellt. Wir selbst sind Zeugen, wurden mit unserem Büro aus dem schönen GSW-Hochhaus durch das Rocket Internet Imperium vertrieben. Die haben gleich das ganze Haus mit 19.000 Quadratmetern gemietet.
Tatsächlich haben die Städte in diesen Boomzeiten enorme Chancen, ihre Potenziale zu verwirklichen, Brachen wieder zu revitalisieren, große Stadtverdichtungen und -erweiterungen erfolgreich anzugehen. Geld flutet den Markt wie die Niagarafälle eine Badewanne. Fonds, Versicherungen, Banken, sie alle wollen die Riesenparty nicht verpassen.
Ein Projektentwickler von einem großen Wohnungsbauer fragt sich, was für Innovationen er hausintern überhaupt durchbringen kann, wenn ihnen jede noch so konventionelle Wohnung in München aus den Händen gerissen wird. Never change a winning horse...
Aber es geht noch weniger: Barry Leddy aus Irland war die Jahre nach der Krise nach Malaysia ausgewandert. Jetzt ist er zurück. Er erzählt die folgende Geschichte von einem Makler aus Dublin aus vormaligen Boomzeiten: Auf die wiederholte Frage des Entwicklers, warum die Werbeprospekte immer noch nicht fertig sind, deutet der alte Vertriebshaudegen mit seinem Finger auf seine ausgestreckte Zunge und antwortet genervt: „Thats me broshure!“ Was kann da noch schiefgehen? Jörn Walter ist einer der langjährigen Fahrensmänner, vielleicht zurzeit der bedeutendste Stadtbauer und Oberbaudirektor des Landes. Er kennt das alles und ist überzeugt: Der nächste Absturz kommt bestimmt. Ich erinnere mich auch. 2008 war Berlin noch eine schrumpfende Stadt. Nicht einmal 2.000 Wohnungen wurden in dem Jahr fertiggestellt. Der Bürobau kam komplett zum Erliegen.
In diesem Jahr erwartet Engelbert Lütke Daldrup, Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung, Baugenehmigungen für 200.000 Wohnungen! Regula Lüscher, Berliner Senatsbaudirektorin, ist von der allgemeinen Euphorie angesteckt: „Ich bin begeistert!“ Aber die Kapazitäten in ihrem Amt reichen für all die Projekte nicht aus. Peter Jorzick, Hamburg Team, kann das bezeugen: „Sechs Jahre für einen Bebauungsplan sind eine zu lange Zeit!“ Nachbarschaften, die sich gegen Bauvorhaben zusammenschließen, politische Kleinkriege zwischen den Fraktionen auf lokaler Ebene und unterbesetzte, überforderte Planungsämter verlangsamen die Verfahren zu Schneckenrennen.
der Branche und deckt interne Schwächen auf. Gleich zur ersten Projektbesprechung kündigt der Geschäftsführer an, eine Projektleiterin auf das Projekt zu setzen. Da der Firmeneigentümer bis zum Bäumchen des Verkaufsmodells noch alles selber entscheiden will, sind Konflikte, Kosten- und Terminverzüge zu erwarten. Ein Grundproblem der Branche. Klare Entscheidungsstrukturen schaffen und Verantwortung abgeben fällt so schwer. Doch gerade in Ichweißnichtwasichzuersttunsoll-Zeiten entscheidet die Qualität der Zusammenarbeit über den Projekterfolg.
Auf meiner Suche nach den Gründen, warum die Immobilienbranche meint, ohne Frauen auszukommen, bin ich auch fündig geworden. Ein erfahrener Anwalt einer großen Kanzlei: Wenn einer beim Bewerbungsgespräch mit Work-Life-Balance und so kommt, das geht gar nicht bei mir! Ich mag ja Frauen wirklich gerne! Aber es ist schon blöd, dass praktisch alle nach zwei Jahren unsere Kanzlei wieder verlassen, um Richter oder so was zu werden. Völlig unerklärlich! Albert Heinermann hat von möglichen Antworten gehört: Die Generation Y ist die erste Generation, die wirtschaftlich unabhängig ist und ein ausgewogenes Leben führen will. Na, so was!