Ey, Alter!

Ey, Alter!

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 08/2015

Unsere „Seniorenresidenzen“ sind alles in Allem eine Schande für die Gesellschaft. Eine Hölle der Ignoranz, Gedankenfaulheit und des Zynismus.

In der Toskana nahe Arezzo kommen 20 Freunde zusammen, um einen 50. Geburtstag zu feiern. Am Pool machen die meisten auch in Badehose noch eine gute Figur. Das Tanzen auf den massiven Eichentischen gelingt leichtfüßig, eingekauft wird bei Prada im Outlet-Center um die Ecke, gesunde Ernährung beginnt mit dem selbstgemixten Biomüsli am Morgen. Eben Babyboomer, gefühlt in der Mitte des Lebens. Im Laufe der Festtage kommt der naheliegende Gedanke auf, ob das Leben nicht auch unter dem Titel Alten-WG für immer so weitergehen kann.

Ich habe beim ZukunftsInstitut nachgeschaut: In Europa sind 2030, also in 15 Jahren, mehr als die Hälfte der Menschen über 50. Sie können dann mit einer weiteren Lebenserwartung von rund 40 Jahren rechnen. Deutschland ist heute schon das Land mit dem vierthöchsten Durchschnittsalter der Bevölkerung, nach Japan, Italien und der Schweiz. Und das Land mit dem dritthöchsten Anteil der Bevölkerung über 60 Jahren - nach Italien und Griechenland. In den meisten Industriestaaten verursachen die Babyboomer, die allmählich ins Rentenalter kommen, vor allem ab 2020 eine wesentliche Beschleunigung dieses Alterungsprozesses.

Ob Rente, Pflege oder Lebensarbeitszeit: nahezu alle Staaten versuchen mit Kommissionen, Programmen und gesetzlichen Änderungen den erforderlichen gesellschaftlichen Umbau zu verstehen und zu gestalten. Familie, Arbeit, Gesundheit, Bildung, Mobilität und Urbanität, es gibt kaum einen Bereich, der bereits Antworten auf die umfassenden Veränderungen der kommenden Jahre hat. Das Problem trifft alle Industrienationen nahezu gleichermaßen. Die Menschen werden immer älter und die Geburtenzahlen sinken. Bei der Geburtstagsgruppe in der Toskana kommen auf 20 Erwachsene 5 Kinder.

In den nächsten fünf bis sieben Jahren erwarten die Statistiker zwar für Deutschland dank der zur Zeit hohen Einwanderung noch eine leichte Zunahme, dann soll die Bevölkerungszahl aber bis 2060 auf 67,6 bis 73,1 Millionen zurückgehen, so der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Roderich Egeler im April diesen Jahres. Damit nimmt auch das Arbeitskräftepotenzial deutlich ab (2030: minus 6 Millionen 20- bis 64-Jährige).

In vielen Ländern setzt die Politik auf Zuwanderung. Auch für Deutschland als attraktive Industrienation ist es in den kommenden Jahren die Aufgabe, talentierte Erwerbsfähige aktiv anzuwerben, willkommen zu heißen und zu integrieren. Angelsächsische Länder machen das seit Jahren sehr erfolgreich. Zwei Tage in London reichen, um das zu verstehen.

Aber wie geht Altsein in Deutschland heute?

Bis vor kurzem noch ein weit entferntes Thema für mich. Doch plötzlich erleidet meine Mutter einen Schlaganfall. Sie ist nun dabei sich tapfer zu ihrem gewohnten Leben zurückzukämpfen. Wieder sprechen, gehen, essen, schreiben lernen war die Aufgabe in der Reha. Jetzt hole ich sie ab, um die ersten Tage zuhause gemeinsam zu erproben. Ich schaue mit ihren Augen auf die Welt und alles ist anders. Jede Schwelle im Haus, jeder Bordstein und jede Treppe ist ein Wagnis. Auf der Straße fällt mir die brutale Geschwindigkeit der Verkehrsteilnehmer auf. Schritt für Schritt organisiere ich ihren Tag. Ihre Reihenhäuschen Siedlung liegt gleich neben einem furchtbar hässlichen Einkaufsparadies mit Parkplatz davor. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal praktisch finden könnte. Doch jetzt ist jeder noch so kurze Weg hart erkämpft. Optiker, Friseur, Arzt, krosse Brötchen, Leberwurst, Fußpflege … alles nah dabei. Das sieht für Viele auf dem Land, etwa in der Toskana, deutlich schlechter aus. Auch deshalb werden ländliche Gebiete noch stärker Einwohner verlieren und Metropolregionen zulegen.

Aber zurück zu meiner Mutter in die Bremer Realität: Vor kurzem haben wir uns dort einige Altenheime, pardon „Seniorenresidenzen“, angeschaut. Für 2,6 Millionen Pflegebedürftige gibt es angeblich 13.000 Pflegeeinrichtungen in Deutschland. Die allermeisten draußen am Stadtrand, mit viel Abstandsgrün drum herum. Die Alten unter sich. Aufbewahrungsstätten, teuer für den Einzelnen und die Gesellschaft, aber billig und ohne Ambition zusammengebaut. Eins schlechter, als das andere. Es stinkt nach Urin, Reinigungsmittel und Essensresten. Dort finden sich in der Regel nur Willenlose und Bettlägerige, die sich kurz vor knapp dorthin einliefern lassen. Alles in Allem eine Schande für die Gesellschaft. Eine Hölle der Ignoranz, Gedankenfaulheit und des Zynismus. Ist das auch die Zukunft der nächsten Generation, der Babyboomer in der Toskana, die ab 2020 verstärkt das Altern entdecken?

Altern ist nicht automatisch mit Gebrechlichkeit verbunden.

Das zukuntsInstitut schreibt dazu: Nach Meinung der Deutschen ist man heute erst mit 77 Jahren alt. Und die Alten bleiben länger gesund. Die „healthy life expectancy“ liegt heute für deutsche Männer durchschnittlich bei 93 Prozent, also bei 70 von 76 Jahren, für Frauen 91 Prozent, jeweils der 2. Platz weltweit. Dabei fühlen sie sich auch noch 10 bis 20 Jahre jünger! Das sind gute Nachrichten für die Partygemeinde in der Toskana: die neuen, aktiven Alten werden viel länger erwerbstätig und mobil sein. Und sich auch verstärkt freiwillig engagieren. Dabei wird deutlich, dass das gegenwärtige Bild vom Alter als eine Zeit, in der man sich ausschließlich ausruht und erholt, in Kürze nicht mehr zutreffend ist. Die aktive Übernahme von gesellschaftlichen Pflichten ist angesagt, so das zukunftsInstitut.

Was bedeutet das für die Babyboomer?

Auch hier hilft die Idee von der solidarischen, urbanen, durchmischten Gesellschaft weiter. Neue Formen des Zusammenlebens werden zur Zeit verstärkt ausprobiert: Mehrgenerationen Wohnen, Alten WGs, Cohousing, Seniorengenossenschaften oder Wohnen für Hilfe sind nur einige Beispiele. Durchmischtes, nachbarschaftliches Wohnen lässt Menschen leichter zusammenfinden und gemeinschaftlich leben.

Die Generationen bieten sich wechselseitig Dienstleistungen wie Teile der Haushaltsführung, Kinder- und Seniorenbetreuung an. Der Service wird frei vereinbart. Beratungsstellen unterstützen bei der Gründung und Durchführung. Als Modell wurde das Mehr-Generationen-Haus bereits vielfach erfolgreich umgesetzt. Auch Seniorengenossenschaften vermitteln alltagsnahe Dienstleistungen zwischen den Mitgliedern. Dabei erarbeiten sich aktive Mitglieder eine Gutschrift, die sie bei Eigenbedarf für Hilfeleistungen verwenden können.

Wohnen für Hilfe bringt in Bremen Senioren mit Studenten zusammen. Wohnung für Hilfe in Haus und Garten. Cohousing verbindet private Wohnungen oder Häuser mit Gemeinschaftseinrichtungen. Sie werden nachbarschaftlich geplant und bewirtschaftet. Zu den Einrichtungen zählen auch Küchen, in denen zusammen gekocht werden kann. Auch ein Waschsalon, eine Kita, Coworking Space, Internetcafé, Heimkino, Bibliothek, Werkstatt und Fitnessstudio kann gegebenenfalls genutzt werden.

In der Schweiz gibt es das Dienstbotenheim Oeschberg. Dort werden Knechte und Mägde, die in das Rentenalter gekommen sind, in ihrer gewohnten Umgebung bis ins hohe Alter begleitet. Sie arbeiten, an ihre Möglichkeiten angepasst, wie gewohnt, im Stall, Haushalt oder Wald. Die „Casa Verdi“ in Mailand ist das von Giuseppe Verdi gestiftete Altersheim für etwa 60 Musiker und Opernsänger. Altern wird deutlich individueller, mobiler, gesünder, engagierter, länger, mehr.

Was geht das die Immobilienwirtschaft an?

Die Gesellschaft wird sich dadurch tiefgreifend verändern. Städtebau, Wohnungsbau und Verkehr werden massiv von der Alterung betroffen sein. Die Alten sind die einzige noch stark wachsende Nutzergruppe. Ihre Bedürfnisse, Vorstellungen und Wünsche sind aber von der Immobilienwirtschaft nur unzureichend erkannt. Ein komplettes Umdenken ist erforderlich.