Flüchtlinge

Flüchtlinge

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 12/15-01/16

Auch die USA oder die Schweiz sind auf Einwanderer angewiesen. Aber sie nehmen nur die Besten, um wirtschaftlich vorne zu bleiben. Andere Länder halten ihre Grenzen offen. Die Zukunft wird zeigen, wer klüger handelt.

Ach, Omi, erzähl uns doch noch einmal von früher!“, war unser vereinbartes Ritual, mit dem wir Kinder eine gemütliche Stunde mit ihr einleiteten. Mit Schokolade oder Salzstangen ausgestattet, folgten wir immer wieder staunend ihren Geschichten von dem märchenhaften Gutshof ihrer Jugend, dem grausamen Krieg, der kommunistischen Enteignung und Vertreibung, den Strapazen der Flucht und dem bescheidenen Neuanfang im Westen. Die Szene, als sie mit ihren drei kleinen Kindern als Einzige von Hunderten in der Nacht den russischen Kontrollposten passieren konnte und auf der anderen Seite des damaligen Grenzflusses Mulde auf dem Weg in den Westen vor Glück und Erleichterung weinend auf die Knie fiel, schlug wie ein zuckender Blitz in die wohlige Wärme meiner Kindheit.

Wie die Familien meiner Mutter und meines Vaters kamen nach dem Zweiten Weltkrieg 12,5 Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten in das verkleinerte, zerstörte Deutschland. 1950 war jeder vierte Einwohner der DDR Flüchtling oder Vertriebener. Vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg verloren fast 60 Millionen Menschen in Europa ihre Heimat. Die Ideologie zweier totalitärer Systeme hatte sie zu Zwangsmigranten gemacht. Die Aufnahme der vielfach traumatisierten Flüchtlinge, die häufig nahezu ihre gesamte Habe verloren hatten, war unter den Ansässigen im Einzelfall eher ruppig. Woher sollte in dieser harten, kriegerischen, knorrigen Umgebung auch plötzlich Solidarität mit den Schwachen und Mittellosen kommen, mit denen zwangsverordnet Tisch und Dach geteilt werden musste?

Heute trifft die aktuelle Zuwanderungswelle die wohlstandsdeutsche Gesellschaft so unvorbereitet wie mich die Geschichte meiner Großmutter. Zunächst die märchenhafte Verklärung: Wow, wir sind ein so tolles Land, dass Menschen zu UNS kommen wollen! Wir sind Weltmeister und werden geliebt!!! Das Leben ist so schön! Dann die erschreckende Erkenntnis, dass die romantische Südseeinsel Bundesrepublik auch von brausenden, kalten, tiefen Meeren umgeben ist, in denen brutalste Kriege, grausamstes Elend, Verachtung, Verbrechen, Armut, Hunger, Vertreibung und Flucht, aber auch elendes Regieren und mangelnde wirtschaftliche Dynamik massenweise leidvolle Biografien prägen. Und plötzlich bleiben diese bunten, leicht schauerlichen Elendsbilder nicht mehr hinter den medialen Oberflächen, sondern durchfurchen dieses wohlgeordnete und mit sich voll beschäftigte Ländchen wie ein führerloser Schneepflug das verschneite Tal.

Viel zu langsam wächst die Erkenntnis, dass sich gerade die Spielregeln geändert haben.

Eine neue Epoche hat begonnen 

Unsere Städte wandeln sich unter den ungläubigen Blicken von den kränkelnden, schrumpfenden Gebilden einer alternden Welt innerhalb weniger Jahre zu attraktiven Weltstars. Kaum zu glauben, aber 2008 war Berlin eine schrumpfende Stadt, noch 2009 war das Zu- und Abwanderungssaldo für die Bundesrepublik negativ.

Szenenwechsel: Bei einer Radtour durch den Park delle Cascine in Florenz treffe ich auf eine Fitnessgruppe von Senegalesen, die den neben ihr sportelnden italienischen Individualisten zeigt, wie gemeinsam geübt wird. So groß und schlank und jung und schön und selbstverständlich folgen die Afrikaner in harmonischem Gleichmaß ihren Übungen. Beide Gruppen haben keine Arbeit. Die einen sind vor Kurzem als Flüchtlinge angelandet, die anderen gehören zu den 40 Prozent Jugendarbeitslosen in Italien.

Muskulöse Mamones, Bildhauer ihrer selbst, aufgewachsen mit sich windenden, wohlgeformten Renaissance-Körpern in der Loggia dei Lanzi und dem Wunsch nach körperlicher Schönheit, Anerkennung, Lebenssinn. Sowohl die Italiener als auch die Senegalesen beabsichtigen nicht, in Italien zu bleiben. Willkommen sein, Ausbildung, Arbeit haben, passenden Wohnraum finden und Freunde gewinnen sind Teil auch ihres Lebenstraumes.

Nach der Erhebung von Gallup aus dem Jahr 2009 wollen ungefähr 60 Millionen Menschen aus Zentral- und Südasien ihre Heimat verlassen. Von den 360 Millionen Menschen im arabischen Raum zwischen Marokko und Jemen will ein Viertel nach Europa. Das sind heute ungefähr 90 Millionen.

Von den jungen Afrikanern wollen heute ungefähr 400 Millionen zu uns. Hochgerechnet auf 2050 wollen über eine Milliarde Menschen nach Europa einwandern, sagt Gunnar Heinsohn von der Universität Bremen. Diese Schätzungen sind noch vor den großen Kriegen in Libyen, Syrien und dem Irak und vor dem Preisverfall des Petroleums erhoben worden.

Länder wie die USA, Kanada oder die Schweiz haben auch zu niedrige Geburtenraten und sind ebenfalls auf Einwanderer angewiesen. Aber sie sichern ihre Grenzen und nehmen gnadenlos nur die Besten, um wirtschaftlich vorne zu bleiben. Andere, wie Deutschland, Frankreich oder Schweden, bekennen sich zu den Hilfsbedürftigen und halten ihre Grenzen offen. Die Zukunft wird zeigen, wer klüger handelt.

Unabhängig von der Evaluierung stehen Fragen nach beschleunigtem städtischen Wachstum dringend zur Bearbeitung an. Das ist ja per se auch nichts Bedrohliches. Im Großraum Tokio leben schon heute fast 38 Millionen Menschen. Schwer vorstellbar: halb Deutschland in einer einzigen Stadt. Diese Megacity ist 12 Mal so groß wie Berlin oder fast 60 Mal so groß wie Frankfurt. Im Zuge der Urbanisierung werden nach den World Urbanization Prospects viele Megastädte bis zum Jahr 2030 weiter deutlich wachsen: der Ballungsraum Delhi von heute 25 auf etwa 36 Millionen Einwohner, der Shanghais von derzeit 23 auf 30 Millionen.

Auch die Städte in Deutschland wachsen:

Immer mehr Menschen wollen in den Metropolregionen leben. Wie aus einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln hervorgeht, können Großstädte ab 500.000 Einwohnern mit deutlichem Zuzug rechnen. Besonders stark soll die Bevölkerung im Großraum München wachsen, und zwar um 24 Prozent auf 3,3 Millionen im Jahr 2030. Berlin und Potsdam können zusammen mit einem Bevölkerungszuwachs von 15 Prozent rechnen und kommen auf über vier Millionen Einwohner. Das erscheinen gerade im Vergleich mit den internationalen Riesen vorsichtige Vorhersagen.

Aber wie kann es nachhaltig, nachbarschaftlich, durchmischt, integrativ, sozial verträglich, kostengünstig, kurzfristig und auf der Höhe des aktuellen Kenntnisstandes bewältigt werden? Kann es nicht. Natürlich werden die extrem hohen Ansprüche derzeit krass unterlaufen. Trotzdem muss gehandelt werden. Umgehend, pragmatisch, kenntnisreich, selbstbewusst. Die Ziele sind klar: dichter, schneller, günstiger, nachhaltiger und klüger bauen.

Im internationalen Vergleich erscheinen deutsche Städte nicht besonders überfüllt. In Europa besitzt Paris mit 21.000 Einwohnern/km² eine sehr hohe Bevölkerungsdichte. Die statistisch am dichtesten besiedelte Großstadt in Deutschland ist München mit 4.500 Einwohnern je km² vor Berlin (3.900 Einwohner/km²).

Deutschland hat in den letzten beiden Jahrzehnten eine Phase großer Veränderungen und Visionen erlebt. Die Reformen der letzten Jahre zeigen, dass diese Gesellschaft mit ihren inklusiven Institutionen, ihrer Offenheit und ihrem Mut auch zu größeren Projekten fähig ist. Heute wissen wir so viel mehr über erfolg-reiche Städte und ihre Planung als noch in den 50er und 60er Jahren. Auch wenn zunächst einfach ein Dach über dem Kopf gebraucht wird, es geht darüber hinaus um Orte für die inklusive Gesellschaft. Um Plätze, die offen sind für unterschiedliche Gruppen und Teilhabe ermöglichen. Es geht um eine gesellschaftliche Vision, um die durchmischte, pluralistische, offene Gesellschaft, um die Grundlage und Konstituierung unserer Zivilisation in den Zeiten der großen Völkerwanderungen.