Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 02/2015

Wir wissen mehr, wir wollen mehr, wir sind in vielen Rollen unterwegs. Informationsaustausch wird immer wichtiger. Doch die Sorge, dass der Nachbar abschreiben könnte, ist größer als die Neugier.

Gerade habe ich meiner Tochter noch die Latein-Vokabeln abgefragt, schon sitze ich im Auto und höre Turandot, die Oper von Puccini. Um 9.00 Besprechung mit A, B und C zu dem Grundstück D. Dann E wg. F, tel, tel., tel., anschließend Team1, T2, T3, Mittagessen mit H wg. I, nachmittags BDA Galerie, Sport mit meinem Sohn, Abendessen, Vorstandssitzung.
Vater, Hörer, Architekt, Grübler, Auftragnehmer, Arbeitgeber, Partner, Kollege, Vorstand, Sportler, Ehemann, etc. Diese umeinander schwirrenden Rollen, diese Wirklichkeiten als Bestandteile von Wirklichkeiten sind heutige Realität. Keiner ist nur noch eine einzige Person.

Diese Vorstellung von den Welten neben und in anderen Welten beschreibt auch unsere Lebens- und Arbeitsumgebung ganz gut. Nur sehr selten sind wir auf uns alleine gestellt. Immer wieder gilt es unterschiedliche Perspektiven zu erkennen, zu bewerten und zusammenzubringen. Ein Projektentwickler sieht in einem Projekt etwas deutlich anderes, als ein Politiker, ein Stadtplaner, ein Architekt, ein Nachbar, ein Bauphysiker, Tragwerksplaner, Behindertenbeauftragter, Arbeitnehmervertreter. Demnach planen wir innerhalb eines Vorhabens viele Gebäude gleichzeitig. Klar, da ist nach der Fertigstellung das real existierende, physisch vorhandene, einmalige Haus. Aber zusätzlich gibt es die vielen Häuser in den Vorstellungen der anderen. Wenn das so ist, hat das Einfluss auf unser Denken und Handeln.

Immer öfter müssen wir Erkenntnisse von anderen nutzen, um passende Antworten für eine anspruchsvollere Welt zu finden. Alle wollen ja auch mehr. Mehr Licht, Luft, Wärme, Normen, Platz, Schönheit, Technik, Medien, Wohlbefinden, usw. Das alles kann nur mit der richtigen Sichtweise, Interpretation, dem passenden Kompass und neuen Ideen gelingen. Alles soll gehen. Aber daraus wird nicht automatisch eine richtige Lösung, eine gute Architektur oder eine gute Stadt. Wir müssen differenzierter denken, vielfältigere Lösungen finden. Denn viele Umgebungen sind komplizierter und abwechslungsreicher geworden.

Die Fakten sind bekannt

Die Leistungsfähigkeit von Prozessoren verdoppelt sich alle 18 Monate, das Wissen der Welt angeblich alle 8 Jahre, medizinisches Wissen sogar alle fünf Jahre. Die Anzahl der Menschen mit wissenschaftlich-technischer Ausbildung ist zwischen 1950 und 2000 von 10 auf 100 Millionen angestiegen. Tim Berners-Lee machte das World Wide Web-Projekt 1991 öffentlich und weltweit verfügbar. Seitdem verbreiten sich Nachrichten, Trends, Erkenntnisse, Wissen und Ideen in rasendem Tempo. Seit 2001 verkauft Apple den iPod, 2007 wurde das iPhone vorgestellt. Das ist alles noch nicht allzu lange her. Die Menschheit, Internetadressen, Bauvorhaben, Pkws, Pop-songs, wissenschaftliche Veröffentlichungen, täglich fahrende Züge in Deutschland, alles wird mehr, mehr, mehr. Die Unübersichtlichkeit bedarf der Klärung. Viele wünschen sich einfache Antworten, erkennbare Sachverhalte, offensichtliche Lösungen: „entweder/oder, ja/nein“ Lösungen.

Viele wünschen sich so sehr Sicherheit und versuchen Risiken auszuschließen. Aber die Spielregeln haben sich verändert. Das Universum ist explodiert, zerschlagen in endlos viele Galaxien. Staub, Sterne, Löcher und Planeten rasen um und ineinander und in absehbarer Zeit kommt das nicht mehr zusammen. Also, was heißt das für die, die sich mit dem Bauen, mit Architektur und Stadt beschäftigen, wenn alles in und um uns vielfältiger, schneller und unübersichtlicher geworden ist? Die Werkzeugkiste dafür ist bestückt mit Neugier, Leidenschaft und Mut, Flexibilität, Risikobereitschaft, mit Kreativität, Kultur und Ideen, mit Offenheit und Zusammenarbeit, kurz: mit Innovationen. Doch daran mangelt es in der Immobilienbranche auf allen Ebenen.

Innovationsstudie

Unter der Leitung von Tobias Just hat die IREBS an der Universität Regensburg eine bemerkenswerte Studie zum Thema Innovationen in der Immobilienwirtschaft publiziert. Ein Informationsaustausch zwischen Marktteilnehmern mit ihren Kunden findet leider nur selten statt. Wie beim Streber in der Schule ist die Sorge, dass der Nachbar abschreiben könnte, größer als die Neugier. Intransparenz wird so zur Abwehr von Konkurrenz, aber auch zum Innovationshemmnis. Patentschutz für innovative Lösungen zum Beispiel von Architekten oder Bauunternehmen ist kaum vorhanden. Und wenn Ideen nicht geschützt werden, ist die Motivation sie zu entwickeln und anderen zur Verfügung zu stellen, gering. Durch hohe Kapitalbindung und hohe Fremdfinanzierungsquoten entsteht ein extrem hohes Sicherheitsbedürfnis, das auf allen Ebenen innovationshemmend wirkt. Keine Experimente! Schon gar nicht mit meinem Geld! Dadurch ist die klagefreudige Branche intolerant gegenüber jeder Art von Fehlern. Diese Risikovermeidungskultur hat sich fast flächendeckend durchgesetzt.

Eine Unternehmenskultur, die z. B. auch Fehler akzeptiert, ist nahezu ausgeschlossen. Dabei spreche ich nicht Hasardeuren das Wort, sondern frage nach einer Unternehmenskultur, die kontinuierlich nach besseren Lösungen sucht. Auch die kurzfristige, risikoscheue Orientierung der Kapitalgeber läuft häufig nicht parallel zu der langfristigen, innovationsorientierten Ausrichtung der Nutzer. Dadurch werden die Freiräume für Projekte außerhalb der traditionellen Lösungen auf winzige Nischen reduziert. Deshalb kann in dieser karstigen Landschaft eine Innovationskultur nur schwer aus sich heraus entstehen. So ist es nicht überraschend, dass Veränderungen meist durch öffentliche Hand und Gesetzgeber eingeführt, ja erzwungen werden. Das Paradebeispiel sind die Energieeinsparverordnungen, die in ihrer jeweils verschärften Form wie mit der Schraubzwinge Innovationen aus der vertrockneten Branche pressen. Auch bei Forschung und Entwicklung ist zumeist die öffentliche Hand die treibende Kraft. Welches Immobilienunternehmen hat schon eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung? Die Unternehmen sind in der Regel zu klein. Auch die Studienmöglichkeiten sind begrenzt. Den 354 Studienangeboten für Architektur standen 2014 nur magere 42 für Immobilienwirtschaft und -management gegenüber. Wissen die bereits alles? Ist Nachwuchs überhaupt gefragt?

Weiterdenken

Ein Um- und Weiterdenken ist dringend erforderlich! Das ist gemeinsam im groß angelegten Verbund sinnvoll. Ziel muss die Etablierung einer Innovationskultur in den einzelnen Unternehmen, den Verbänden, der Branche, der öffentlichen Hand und beim Gesetzgeber sein. Dazu zählt ganz oben auf der Liste Flexibilität. Um auf ein sich kontinuier lch wandelndes Umfeld auch fortwährend reagieren zu können. Und Risikobereitschaft. Um Neues zu entwickeln und umzusetzen. Und Offenheit. Um Zusammenarbeit und Neugier innerhalb und außerhalb der Branche zu stärken. Denn gerade die Schnittstellen unterschiedlicher Fachbereiche sollten als Quelle für Innovationen genutzt werden. Auch sollte der Gesetzgeber Innovationen nicht nur fordern, sondern auch fördern.

Also: Wer veranstaltet den dann jährlich stattfindenden Innovationskongress für die Immobilienwirtschaft? Wer gibt den dazu passenden Innovationsbericht heraus? Wer recherchiert ein Ranking der innovativsten Unternehmen der Immobilienwirtschaft? Wer lenkt den Strom der Immobilienwirtschaft weg von der Fokussierung auf den nächsten Deal hin zu einer Innovationskultur? Kommentare und Vorschläge sind mehr als willkommen!