Reenactment

Reenactment

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 05/18

In der Frankfurter Altstadt und am Schlossplatz in Berlin wird Geschichte neu inszeniert. In meiner Kolumne in der Immobilienwirtschaft 05/2018 setze ich mich mit dieser mal mehr und mal weniger gelungenen Mixtur aus „Gefundenem“ und „Erfundenem“ auseinander. Denn mir gefällt es nicht, wenn an den zentralen Orten einer Stadt künstliche Nostalgie Vorrang erhält vor der Neugierde auf das, was kommt.

Um mich tost der Jubel der begeisterten Gäste im Schützenzelt auf dem Oktoberfest. Mein Blick schweift von der Galerie über die nahezu komplett in zünftige Trachten gekleidete Partygemeinde. Es sind Tausende allein in diesem Zelt. Auch mein bayrischer Gastgeber wundert sich über so viel globale Hingabe an die krachledernen Traditionen der Region und klärt mich auf: Also, in den Siebzigern, in unserer Jugend, sind wir hier noch alle in Jeans unterwegs gewesen. Heute empfindet er diese Trachtenshow als Maskerade. Ist es einfach eine Art Karneval und die Freude daran in eine andere Identität zu schlüpfen? Heute fesches Madl, morgen dicke Deern? Aber auf der Wiesen sind alle in ähnlichen Trachten unterwegs, möglichst traditionell. Hier geht es darum, Teil einer Gemeinschaft zu sein, es geht um durch Traditionen gestärkten Zusammenhalt und Gruppenzugehörigkeit. Ich komme da emotional nicht mit.
 
Die jubelnden Massen in ihren traditionellen Uniformen gehen mir durch den Kopf, während ich die neue Altstadt in Frankfurt besichtige. Sieben Jahre ist es her, daß das brutalistische neue Rathaus in Frankfurt abgerissen worden ist. Keiner vermisst es. In die Planung und den Bau der neuen Altstadt ist genauso viel Hingabe und kontroverse Diskussion geflossen, wie in den Wiederaufbau des Berliner Schlosses. Mittlerweile sind in Frankfurt zwischen Dom und Römer 35 blitzblanke Giebelhäuschen mit Schindeldach entstanden. Ein Gestaltungsbeirat mit eigener Satzung und eine städtische Entwicklungsgesellschaft sind für die Qualität der 15 Rekonstruktionen und 20 Neualtbauten verantwortlich. Auf der U-Bahnstation und der Tiefgarage sind schöne, irrationale Räume entstanden. Die Bebauung orientiert sich am historischen Stadtgrundriss mit seinen engen Gassen und Plätzen und den auf kleinen Parzellen stehenden Altstadthäusern. Schön, wie die Häuschen an den Dom heranrücken. Und plötzlich wirkt das Dömchen mit seinem Miniturm nicht mehr zu klein. Auch wenn eine Pergola nervt, entstanden dabei um die Schirn enge, urbane Zwischenräume. Diese Kleinstteiligkeit führt zu großer formaler Vielfalt und abwechslungsreichen Räumen. Kaum ein Projekt hat in Frankfurt so viel Begeisterung und Zuneigung innerhalb der Bevölkerung entfacht, wie diese Miniaturmischung aus 6000 m2 Gewerbe, 12.000 m2 Wohnen und 3000 m2 Kultur. Die 80 Wohnungen, um die es geht, wurden für 5000 bis 7000 Euro pro Quadratmeter an ein breites Bewerberfeld verlost.
 
Leider überzeugen mich gerade die neuen Entwürfe nicht. Ein paar Regenfallrohre auf der Fassade ersetzen noch keine anspruchsvolle, zeitgenössische Architektur. Kaum sind die Fassaden ausgerüstet soll das Vorhaben erweitert und Vorbild für andere Projekte werden. Wer einmal von dem süßen Brei gekostet hat...Aber warum? Es geht in vielen Diskussionen um die Mitte der Bürgergesellschaft, den Gral der Demokraten, es geht um die Lagerfeuer der globalen Gesellschaft. Um die gefühlte Wärme und heimatliche Geborgenheit in einer als kühl empfundenen Welt. Um die Sehnsucht nach Altbekanntem und Vertrautem. Das ist mit historischen, nostalgischen und traditionellen Formen und der Aura der Authentizität sofort erreichbar. Zeitgenössische Architektur braucht länger, um so inniglich geliebt und verstanden zu werden.
 
Zwei Tage später sitze ich in einer Jury in Nürnberg. Mit dabei sind auch die Altstadtfreunde e. V.. Sie schauen der Stadtplanung immer wieder lautstark auf die Finger. 1996 haben sie den als „aufgeschnittene Bratwurst“ diskreditierten Entwurf von Helmut Jahn per Volksentscheid zu Fall gebracht. Ihr Vorsitzender fordert heute eine „ortsübliche Gestaltung“ und einen „respektvollen Weiterbau“. Beim Gang durch die Nürnberger Innenstadt ist kaum zu glauben, daß die zu 90% zerstört war. Auch in Nürnberg geht es um das Bedürfnis, Stolz auf die eigene Geschichte zu sein. Es geht um Heimat und um Identität in Harmonie mit der Vergangenheit.
 
Das war schon mal ganz anders. Im gesamten 20. Jahrhundert wurde jede Wiederherstellung von ganz oder teilweise zerstörten Bauwerken erbittert umkämpft. Die Moderne schaute mit Verachtung auf die historischen Städte. Le Corbusier schlug allen Ernstes den Totalabriss der Pariser Innenstadt vor. Die Reste des Stuttgarter Schlosses sollten gesprengt und durch einen provinziellen Mies van der Rohe Verschnitt ersetzt werden, bevor es dann doch wieder aufgebaut wurde. 
 
Die epochale Wende war die Wiederentdeckung des Stadtgrundrisses, der von den Urbanisten im Gefolge von Le Corbusier nie ernst genommen worden war. Diese Wiederentdeckung ist mit Josef Paul Kleihus und der Internationalen Bauausstellung (IBA) Berlin 1984/1987 verbunden. Klaus Humpert hatte bereits in den 1960er Jahren mit seiner Konviktstrasse in Freiburg Bahnbrechendes geleistet. Da sollten zunächst die baufälligen Häuschen abgerissen und ein Parkhaus gebaut werden. Doch es kam anders und auf den historischen Parzellen wurden unter Einbeziehung der zerstörten Substanz neue, dreigeschossige Steildachhäuser errichtet. Keine bedeutende Architektur im Einzelnen, aber als Ganzes ein einflussreiches Vorbild. 
 
In Berlin klotzt gerade die Bundesrepublik das Preußenschloss wieder auf die Museumsinsel. Vom Förderverein Berliner Schloss wurden bereits 80 Millionen Euro Spenden gesammelt (zusätzlich zu den 500 Millionen vom Bund). Sie arbeiten daran die historische Mitte zu vervollständigen und das Stadtbild zu historisieren. Der Wiederaufbau soll Berlin wieder zum geliebten Spree-Athen machen. Die Altstadt soll folgen.
 
Reenactment nennt man die Neuinszenierung konkreter geschichtlicher Ereignisse in möglichst authentischer Weise. Meistens geht es um die Nachstellung von Schlachten der großen Kriege.
Geschichte, die in den Händen von Regisseuren liegt, wird zur Mixtur aus „Gefundenem und Erfundenem“. So werden falsche Geschichtsbilder vermittelt, die in der Regel einem modischen, intellektuellen oder politischen Zeitgeist entsprechen.
 
Ich störe mich nicht an dem Aufgreifen der historischen Parzellenstruktur. Ich habe auch nichts gegen eine dementsprechend kleinteilige Stadtplanung. Schon gar nicht in den Zentren, auf historischem Boden. Ich halte es auch für schlüssig, gewachsene Wegesystem, die sich über hunderte von Jahren entwickelt haben,  weiterhin zu nutzen.
 
Ich zweifle aber an einer nostalgischen Strategie, die auf historische Formen und einen heute unzulänglichen, vormodernen Städtebau zurückgreift. Und damit mit Bildern operiert, die unsere eigene verklärte Sichtweise auf die Vergangenheit widerspiegeln. Eine Neubau Altstadt hier oder ein Wiederaufbau Schloss da, sind für eine Gesellschaft kein Problem. Vielleicht tragen Sie auch zur Identifikation einiger Bürger mit Ihrer Stadt bei. Vielleicht überbrücken sie Gräben zwischen denen in den Bankentürmen und jenen in den Straßen. Vielleicht ist das eine Art Populismus, ein Trachtenaufzug mit Heimatdichter. 
 
Es wird ja an anderen Stellen viel und auch hin und wieder in guter Qualität zeitgenössisch gebaut. Aber es macht mir Sorgen, wenn an den zentralen, bedeutenden Orten der Gesellschaft die Vorstellungen von Tradition und Nostalgie Vorrang erhalten vor der Neugierde auf das, was kommt. Und es kommt so viel. Mit Wucht. Unaufschiebbar.