Städte können scheitern

Städte können scheitern

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 10/2016

Viel zu lange wurde an fragwürdigen Standards festgehalten, dreidimensionales Planen hinausgeschoben und modulares Bauen abgetan. Mein Appell an alle Expo-Teilnehmer: Kein „Weitersowiebisher“!

Bei meinem Vortrag auf der Heuer­Dialog­Veranstaltung schaue ich in bestens gelaunte und braungebrannte Ge­sichter. Der Immobilienbranche geht es blendend. Die Eu­phorie scheint die Decke des Vortragssaales zu heben. Ich denke dabei an die Städte, die ich gerade gesehen habe, und mir wird klar, dass gerade in Zeiten besonderer Prosperität die Keime des Niedergangs gesät werden. Wie kann das sein?

Venedig, Neapel, Pompei und Paestum im Süden, London, Birmingham, Liverpool und Manchester im Norden waren in diesem Sommer meine Stationen. Jede dieser ruhmreichen Städ­te hat sich während ihrer wechselvollen Geschichte wieder und wieder mit atemberaubender Brutalität verändert. Städte kön­nen explosionsartig wachsen und wenige Generationen später implodieren. Sie können ins Zentrum des Geschehens oder an den Rand der Ereignisse geschleudert werden. Auf dem Canal Grande mit seinen prächtigen, morbiden Palästen wird sichtbar, dass Venedig einst zu den reichsten Städten der Welt gehörte. Aber die Entdeckung Amerikas war ihr Niedergang. Heute ist die Stadt ein Museumsdorf.

Und was ist noch übrig von der Pracht und wirtschaftlichen Macht der neapolitanischen Festungen, Kirchen und Paläste? Staub, Müll, Arbeitslosigkeit und Kriminalität sind heute die vorherrschenden Themen. Auch dem englischen Norden hat der Strukturwandel stark zugesetzt. Manchester hat dem Kapitalis­mus und der Industrialisierung zum Durchbruch verholfen. Aber das ehemals wichtigste industrielle Zentrum der Welt verlor in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch 20 Pro­zent seiner Einwohner. Erst nach erheblichen Restrukturierungsanstrengungen scheint die Wende zum Besseren geschafft.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden 40 Prozent des Welt­handels über Liverpool abgewickelt, doch seit den 50er Jahren erlebt die Hafen­ und Industriestadt einen gnadenlosen Nieder­gang. Die Arbeitslosigkeit stieg in den 70er Jahren in einigen Vierteln auf über 90 Prozent. Mitte der 80er Jahre ging die Stadt durch die in die Höhe schnellenden Sozialleistungen pleite. Noch heute gehört Liverpool zu den ärmsten Städten Englands.

In der Regel sind es nicht Ereignisse von außen, sondern un­günstige politische Strukturen und kurzsichtige Entscheidungen, die einer Stadt den Abstieg bescheren oder den Aufstieg verweh­ren. In Gesprächen höre ich den einen oder anderen, der den Vergleich zwischen Berlin und London zur Befeuerung lokal­patriotischer Ambitionen missbraucht und den Brexit schaden­froh als eigenen Standortvorteil kommentiert. Mit Schaudern habe ich den Bulwiengesa­-Vergleich zwischen Berlin und London gelesen, bei dem die kleine Stadt in Brandenburg, befeuert von ausgewählten Statistiken, nicht schlecht abschneidet. Doch sol­che ungleichen Paarungen können nur unglücklich machen und von den tatsächlichen Aufgaben ablenken. Denn die Ausgangs­bedingungen und Entwicklungsstände der beiden Städte sind völlig andere. Nach dem Krieg hat Berlin die Finanzindustrie an Frankfurt, die Hightech­Industrie an München und die Medien an Hamburg verloren.

Als ich Anfang der 90er Jahre

nach Berlin kam, war die Stadt ein ausgebombter, abgetakelter Ozeandampfer, havariert und vergessen in den Eiswüsten des Kalten Krieges. Der Potsdamer Platz, die ehemals verkehrsreichste Kreuzung Europas, verlassen, die Teststrecke einer winzigen Magnetschwebebahn umkurvte in weitem Rund die Ruine des ehemaligen Luxushotels Esplanade.

Noch bis 2008 war Berlin mit nur 3,2 Millionen Einwohnern eine leere, schrumpfende Stadt. Riesige Wohnungen in bester Lage, die kaum einer wollte, die demografische Perspektive nega­tiv. Mittlerweile laufen die Dinge etwas besser. Und schon breitet sich hochmütige Euphorie innerhalb der Runde der Immobili­enmanager aus. Aber in der Metropolregion Berlin­Brandenburg leben heute immer noch keine vier Millionen Menschen.

Dagegen ist London mit über 13 Millionen die größte Metro­pole Europas. Das nach New York wichtigste Finanzzentrum der Welt ist hoch vernetzt und globalisiert. Über 30 Wolkenkratzer mit einer Höhe von mehr als 150 Metern stehen bereits heute dort. Mehr als 200 Hochhausprojekte sind genehmigt. Diese Di­mensionen sind in Deutschland nur als Fata Morgana sichtbar. London beeindruckt durch seine Weltoffenheit. Rund 40 Prozent der Einwohner sind Migranten. Die liberalisierte Stadt hat von der Globalisierung so stark profitiert wie kaum eine andere.

Allein in den vergangenen sieben Jahren ist die Wirtschafts­leistung Londons um rund ein Drittel gewachsen. Der Wert der Wohnimmobilien in den zehn teuersten Stadtvierteln soll dem gesamten Hausbestand in Schottland, Wales und Nordirland ent­sprechen. Die boomende Hauptstadt erwirtschaftet mittlerweile mehr als ein Fünftel der gesamten britischen Wirtschaft.

Vieles kann man von London lernen

Denn mit dem Nieder­gang des Empire schrumpfte die Einwohnerzahl bis Ende der 80er Jahre um fast ein Viertel. Als ich nach meinem Studium dort arbeitete, befand sich das Büro von Norman Foster in einem runtergewirtschafteten Teil der Stadt. Richard Rogers war, ge­fühlt, ganz weit draußen. Die Stadt sah häufig hässlich aus, die Stimmung war gedrückt. „Recession“ sollte noch für die ganze erste Hälfte der 90er Jahre das bestimmende Wort bleiben.

Aber die Mieten waren vergleichsweise günstig. Das zog junge Kreative an, und mit der rauschenden Globalisierung begann ein rasanter Aufschwung. Heute ist die irrwitzige Preisspirale für Wohnungen und Büros schon längst zum schwerwiegenden Standortnachteil geworden. Gebaut wird viel. Aber nur noch für die Superreichen. Die Stadt hängt am Haken der Eigentümer und Spekulanten, die einen Großteil des Wohlstandes abschöpfen.

Die Lebensqualität der meisten sinkt und die Wut steigt. Mit der Brexit­-Entscheidung erlebt London gerade die Rache der Zurückgebliebenen. Um diese Entwicklungen in Deutschland zu dämpfen, ist vorrangig das soziale Wohnungsproblem in den Städten zu lösen. Dabei darf sich die Immobilienbranche nicht nur als Profiteur, sondern auch als Helfer verstehen. Sie darf die Arbeit am Zusammenhalt der Gesellschaft nicht den kommu­nalen Wohnungsbaugesellschaften und der öffentlichen Hand allein überlassen. Gerade drohen wir krachend zu scheitern. Wir verpassen die historisch einmalige Chance, die Städte auf ein neues Qualitätsniveau zu heben. Stolz auf das Erreichte kann hier keiner sein. Bei den viel zu niedrigen Zinsen kann jeder bauen.

Trotzdem

werden immer noch zu wenig Wohnungen gebaut. Und zu viele sind zu teuer. Die Wohnungen, die realisiert werden, bilden nicht den Bedarf ab, sondern konzentrieren sich zumeist auf das kapitalstärkste Marktsegment. Die Folgen sind in London bereits lange sichtbar. Die Innenstädte verkommen zu langwei­ligen Bankiersgettos und die Kreativen ziehen weiter. Nur inklu­sive, offene Gesellschaften sind attraktiv für Menschen mit Ideen. Nur Städte mit Ideen können auf Dauer bestehen.

Deshalb, Expo­Teilnehmer: Seid nicht mit teurem, langwei­ligem „Weitersowiebisher“ zufrieden! Zu lange wurde bereits an fragwürdigen Standards festgehalten, dreidimensionales Planen hinausgeschoben, Prozesskultur belächelt und modulares Bauen abgetan. Die Interessenskonflikte der Beteiligten verdarben die Ergebnisse. Und im Bürobau werden immer noch Raster gezählt, anstatt Räume zu bauen. Es ist höchste Zeit, bessere und vor allem angemessenere Wohnungen, Büros, Hotels und Quartiere zu bau­en. Lasst uns auf dieser Expo damit anfangen.