Verdichtung

Verdichtung

Kolumne von Eike Becker, "Immobilienwirtschaft" 06/18

Nachverdichtung ist das Thema der Stunde. Klingt wie eine Mischung aus Packesel, Containerschiff und Mietskaserne. Und viele Ämter stemmen sich mit ihren geltenden Baugesetzen wie Rugbyspieler gegen jeden zusätzlichen Meter. Doch in den attraktivsten Metropolen der Welt leben die Menschen dicht zusammen. Wird möglicherweise in Deutschland zu niedrig, zu schmal, zu locker und insgesamt zu luftig gebaut? Ich stelle mir die Frage, ob Städte nicht auch besser werden können, wenn ihre Bewohner enger zusammenrücken. Urbane Verdichtung muss allerdings politisch gewollt und ganzheitlich geplant werden. Dann können auch deutlich dichtere Städte zu Orten mit hoher Lebensqualität und gemeinschaftlichem Leben werden.

Der Saal ist proppenvoll. Die Stimmung eine Mischung aus Klassenfahrt und Straßenkampf. Die Mieter des Beamten-Wohnungs-Verein zu Berlin eG drängten sich im Versammlungssaal am Theodor-Loos-Weg um das Modell des 20-geschossigen Hochhauses. Das soll auf dem Grundstück ihrer bestehenden Parkgarage gebaut werden. Die belegten Brötchen sind lecker, aber keiner der betroffenen Genossen kann dem preisgekrönten zukünftigen Nachbarn etwas abgewinnen. Viele sind nach der Fertigstellung der Gropiusstadt vor 50 Jahren hier eingezogen und zusammen in Ruhe alt geworden. Die Häuser stehen weit auseinander, mit viel Platz für gemähte Rasenflächen drumherum und einem verlassenen Spielplatz, dessen Nutzer bereits seit langem aus ihren kurzen Hosen herausgewachsen sind. Die Anwesenden glauben nicht, dass es vor ihrer Haustür unbedingt dichter zugehen muss. Und das angekündigte Café, die Poststelle, der Veranstaltungsraum, die Gartenküche und der neue Park für Jung und Alt sind noch in weiter Ferne. Die hier wohnen, sind gegen zusätzliche Nachbarn, Autos, Lärm und Baustellen. Sie haben sich eingerichtet und wollen ihre Ruhe. Genau wie sie es kennen.


Wie hier in der Gropiusstadt läuft es an vielen Stellen in der Republik. Nachverdichtung ist das Thema der Stunde. Klingt wie eine Mischung aus Packesel, Containerschiff und Mietskaserne und lässt die Fronten aufeinander prallen: Besitzer wollen ihre Grundstückswerte steigern, Genossenschaften zusätzliche Wohnungen für ihre Mitglieder bauen, Projektentwickler und Investoren ihren Gewinn erhöhen, Architekten die Bauqualität verbessern und Kommunen das Wohnungsangebot erweitern. In Deutschland wird seit Jahren zu niedrig, zu schmal, zu locker und insgesamt zu luftig gebaut. Das liegt im Wesentlichen an einem der einflussreichsten und zugleich irrsinnigsten Manifeste des 20. Jahrhunderts: Der Charta von Athen. Diese Bibel des modernen Städtebaus lag in den letzten 80 Jahren unter den Kopfkissen von Generationen von Stadtplanern und bestimmt heute noch das Aussehen der meisten Städte. Die autogerechte Satellitenstadt im Grünen und Ruhe, Ruhe, Ruhe sind die Maxime, die alle anderen Bedürfnisse wie die nach urbaner Lebendigkeit oder Nachhaltigkeit beiseite schieben. Die Charta von Athen ist verantwortlich für Landfraß, Vereinsahmung, Lebenszeitverschwendung in endlosen Verkehrsstaus und gähnend langweiligen Stadtteilen mit unglücklichen Bewohnern. Auch wenn bereits seit den 1970er Jahren die inhumane, schematische Rasterarchitektur durch Vertreter eines kontextuellen Bauens kritisiert wurde, ist die Festsetzung einer möglichst niedrigen Dichte-Obergrenze bis heute wesentlicher Bestandteil fast aller Bebauungspläne. Zusammen mit der erzwungenen Trennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit nährt die Charta von Athen noch immer die Zombies des heutigen Städtebaus. Was für ein Jammer.

Heute sprechen politische, ökonomische, ökologische und soziale Aspekte für eine deutlich kompaktere Bauweise.Mit der 2007 angenommen Leipzig-Charta fordern deshalb auch Politiker die urban gemischte Stadt mit kurzen Wegen, Arbeitsplätzen vor Ort und sozialer Mischung. Als übergeordnetes politisches Ziel sollten möglichst Viele teilhaben an der im besten Sinne inklusiven, informativen Stadt. Doch die konkrete Umsetzung vor Ort scheitert allzu häufig an populistischem Pragmatismus und Klientelpolitik. Die intensivere Nutzung von bereits erschlossenen Grundstücken mit ihrer vorhandenen Infrastruktur in Verbindung mit voluminöseren Baukörpern könnten einen bedeutenden Beitrag zur Kostensenkung im Wohnungsbau liefern. Aber die Ämter mit ihren geltenden Baugesetzen stemmen sich wie Rugbyspieler gegen jeden zusätzlichen Meter.

Kompakte Städte haben einen kleineren ökologischen Fußabdruck und verbrauchen infolgedessen weniger Ressourcen, weniger Energie und weniger Land. Im Vergleich zu Hongkong, einer der am höchsten verdichteten Großstädte der Welt, ist der Energieverbrauch im lockerer bebauten Berlin dreimal so hoch, in den weiter ausufernden Städten wie Zürich sechsmal, im Siedlungsbrei von Melbourne zwölfmal und im durchgrünten Los Angeles 18-mal so hoch. Das kann durch keine noch so ambitionierte Energieeinsparverordnung aufgeholt werden. Jane Jacobs forderte bereits 1961 in ihrer vehementen Streitschrift gegen den modernen Städtebau eine hohe Einwohnerdichte als wichtigen Faktor für eine bessere Stadt. Auch die sozialtheoretischen Klassiker wie Durkheim oder die Arbeiten der Chicago School of Sociology fordern mehr Dichte.

Dichtere Städte erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die etwas miteinander anfangen können, auch zusammenkommen. Dichte fördert die menschliche Interaktion und damit wirtschaftliche Innovation. So ist die Wahrscheinlichkeit, ein höheres wirtschaftliches Niveau, engere soziale Bindungen oder ein stärkeres subjektives Wohlbefinden zu erreichen, in der City größer als in der Einfamilienhaussiedlung im Außenbezirk. Es geht darum, Menschen dichter zusammen zu bringen, damit Begegnungen sich häufen und Nachbarschaften entstehen. Belebte Cafés, Läden, Museen und Bürgersteige sind Orte der Begegnung. Menschen ziehen Menschen an. Höher, dichter, enger sind die Ziele. Aber wie geht das richtig? In Europa besitzt Paris mit 21.500 Einwohnern/km², über die gesamte Stadtfläche gerechnet, eine hohe Bevölkerungsdichte. Dagegen ist München, als die dichteste Stadt in Deutschland, mit 4.700 Einwohnern/km² geradezu locker besiedelt. Paris als Ganzes ist gut viermal so dicht bevölkert wie München, fünfmal so dicht wie Berlin und siebenmal so dicht wie Stuttgart. Die dichtesten Quartiere hierzulande, wie Berlin-Friedenau, Schwabing-West in München, die Friedrichstadt in Düsseldorf oder Hamburg-Eimsbüttel kommen noch nicht einmal auf 20.000 Einwohner/km². Mit 30.000 bis 40.000 Einwohnern/ km² weisen in Paris gleich mehrere Arrondissements eine doppelt so hohe Bevölkerungsdichte auf. Man muss also gar nicht erst auf die noch viel dichteren asiatischen Megastädte schauen, um festzustellen, daß in den meisten europäischen Quartieren noch lange nicht auskömmliche Dichten erreicht sind. Aber was ist die richtige Dosierung von Erregung und Ruhe, um in einer Umgebung mit unnatürlich schnellem Lebenstempo das globale Glücksgefühl zu erhöhen?

Nur die Gründerzeitquartiere kopieren reicht nicht. Städtische Verdichtung muss ein Gesamtkonzept sein und kann sich nicht einfach nur mit der Vermehrung der Geschossflächen auf gleicher Grundfläche zufrieden geben. Mit ihr kann eine umfassende Verbesserung der Lebensqualität erreicht werden. Das betrifft vor allem die Aufenthalts- und Freiraumqualitäten und bedarf dabei einer entschiedenen Umwidmung der Flächen: Autostraßen reduzieren, Rad- und Fußgängerwege ausbauen, Erdgeschosse öffnen, Dachgärten anlegen und die Parks an veränderte Spiel- und Freizeitaktivitäten anpassen. Straßen und Plätze müssen in dichten Städten deutlich mehr bieten, als Raum für hupende Autokorsos, Schnäppchenjäger und Latte Macchiato Trinker. Sie müssen zu vielfältigen Orten für Bewegung, Begegnung, Angebot und Inspiration werden.

Wachstum und Verdichtung werden in den großen Städten stattfinden. Das kann eher zufällig als zusätzliche Belastung für die Bürger geschehen. Oder aber bewusst als ganzheitliche Verbesserung der Lebensbedingungen gewollt und geplant werden. Warum geschieht das nicht?