Wieder bleibt die neue Freisprechanlage stumm. Verzweifelt lasse ich meinen Blick über die Silhouette Berlins schweifen. Auch sie bietet im tristen Aprilwetter keine Aufmunterung. Neustart, und ich sitze in einer Preisrichtervorbesprechung für eine neue Verwaltungszentrale in Wiesbaden. Noch weiß keiner so genau, welche Behörden zum Zeitpunkt der Fertigstellung einziehen werden. Dafür sind die Ansprüche an die Architektur umso konkreter: klimaneutral, recyclebar, megaflexibel, sozial-, kommunikations- und gesundheitsförderlich, großzügig, möglichst ohne Tiefgarage und vieles mehr. Detailliert wird der bereits mit vielen Beteiligten abgestimmte Ausschreibungstext durchgesprochen. Auch die Beurteilungskriterien. Städtebauliche, räumliche, soziale, ökologische, funktionale und ökonomische Qualitäten werden gefordert.
Alle Wettbewerbsentwürfe müssen sich in Deutschland diesen oder ähnlichen Kriterien stellen. So weit, so bekannt. Aber was wäre das Ergebnis, wenn dieselben, alltäglich hohen Ansprüche an die Architektur auf die Stadtproduktion als Ganzes angewendet würden?
Wir könnten prüfen, wo denn die Immobilienwirtschaft gerade steht, wenn sie sich wie jedes einzelne Gebäude in zentraler Lage qualifizieren müsste. Eine Überlegung, die ich am folgenden Tag mit meinen Kollegen im Innovation Think Tank des ZIA teile. Alle sind neugierig und wir beginnen die Diskussion.
Städtebauliche Qualitäten
Ja, es wird viel gebaut. Aber die Stadtplanung bleibt weit hinter den Erfordernissen einer schnell wachsenden und sich rasch wandelnden Gesellschaft zurück. Gerade in der Pandemie wurde deutlich, dass die öffentlichen Behörden nicht ausreichend digitalisiert, ausgebildet und besetzt sind. Die Boden- und Immobilienpreise steigen, weil nicht genug Bauland ausgewiesen und Bauanträge genehmigt werden. Weil Spekulanten unbehelligt spekulieren dürfen. Weil bürokratische Qualitätssicherung seit Jahren zu verschleppten Bauverfahren führen.
Auch gibt es kaum Überlegungen, wie denn die Stadt in 50 oder 100 Jahren aussehen soll. Stadtplanung ist eine langfristige, für Aussenstehende möglicherweise langweilige, aber extrem wichtige Funktion für die Gesellschaft. Mit faulen Zwangsmassnahmen, wie z. B. dem Mietendeckel, ist das nicht zu schaffen.
Fazit: die öffentlichen Institutionen wurden seit Ewigkeiten nicht mehr reformiert, verharren in einer negativen Mentalität und erfüllen ihre Aufgaben nicht.
Architektonische Qualitäten
Deutschland leistet sich eines der aufwändigsten und teuersten Wettbewerbssystheme der Welt. Und trotzdem einigen sich Jurys zumeist auf mittelmäßige Kompromisse. Extremere Beiträge werden in der Regel aussortiert. Und wenn dann mal ein mutiger 1. Preis gewählt wird, gibt es immer noch die anschließenden Verhandlungsverfahren, die auch den dritten oder vierten Preisträger zum Sieger machen können. Ein irrsinnig aufwendiges System mit dem bescheidenen Ergebnis, einzig und allein „das Schlimmste zu verhindern“.
Fazit: Das in Deutschland praktizierte Wettbewerbssystem ist angstgetrieben und nicht geeignet, identitätsstiftende und innovative Gebäudeentwürfe zu fördern. Es erfüllt deshalb nicht seine Aufgabe für die Gesellschaft.
Soziale Qualitäten
Die weist die Wirtschaft weit von sich. Sie liefert lediglich die Hardware. Eine sozial verträgliche Bodennutzung, durchmischte Quartiere, die Infrastruktur für gute Mobilität und Medien und die öffentlichen Plätze sind Aufgaben der Kommunen. Die Immobilienwirtschaft liefert die Häuser. Am besten so einfach wie möglich gebaut und so teuer wie möglich vermietet und verkauft.
Fazit: günstige Wohnungen, gesellschaftlicher Frieden, liebenswerte Quartiere und Städte, die ein gutes Leben für alle ermöglichen, sieht die Privatwirtschaft nicht als ihre Aufgabe und verweist zynisch auf die öffentlichen Institutionen. Hämisch triumpfierende Mietforderungen nach dem gekippten Mietendeckel belegen die allgemeine Stimmung in der Branche.
Ökologische Qualitäten
In den letzten Jahrzehnten hat sich wenig getan auf der Baustelle. Mit einer Ausnahme: die Energiesparverordnung hat dafür gesorgt, dass die Gebäude energieeffizienter wurden. Leider aber auch technischer und teurer. Und durch die nicht recycelbare Kunststoffdämmung immer giftiger.
Auch die öffentlichen Institutionen bleiben weit hinter den Erfordernissen zurück. Welche Stadt arbeitet konsequent und umfassend daran, klimaneutral zu werden? Es ist zum Verzweifeln.
Fazit: angesichts der Bedrohung durch die Klimakatastrophe folgt die Bauwirtschaft nur widerwillig den durch Gesetze erzwungenen Maßnahmen.
Der Teil der Wirtschaft, der mehr als 50 % der Treibhausgasemissionen verursacht, bekennt sich nicht zu seiner umfassenden Verantwortung, ja, versucht sogar CO2 Ausstoß reduzierende Gesetze zu verhindern. Was für ein Versagen.
Funktionale Qualitäten
Die Aufgabe der Städte ist es, für ihre Bürger ein gutes Leben zu ermöglichen. Für alle Bürger. Die Immobilienwirtschaft müsste zum Gemeinwohl entscheidend beitragen.
Aber wo auch immer ich hinschaue, erkenne ich dysfunktionale Strukturen. Die Städte sind durch ihre Fokussierung auf den individuellen PKW-Verkehr über Jahre zu lebensfeindlichen Orten für Kinder und alte Menschen, also für ihre Bewohner, geworden. Millionen Arbeitende müssen sich durch gestaute Verkehrssysteme quälen, die Lebenszeit vernichten und eine Gefahr für alle darstellen.
Fazit: die Städte haben sich einer tödlichen Mobilität ausgeliefert, bei der nahezu alle ständig unterwegs sind, aber kaum noch jemand zusammenkommt. Eine katastrophale Fehlentwicklung, die viel zu langsam korrigiert wird.
Ökonomische Qualitäten
Zur Zeit erleben wir eine rasante Inflation der Kosten für Grundstücke und Immobilien aller Art. Das führt so weit, dass private Unternehmen freiwillig keine günstigen Mietwohnungen bauen. Die konzentrieren sich lieber auf die lukrativen, „hochwertigen“ Eigentumswohnungen.
Fazit: Die Immobilienwirtschaft versucht so günstig wie möglich zu bauen, um dann so teuer wie möglich zu verkaufen. Kostengünstig wollen sie gar nicht. Ein grundsätzlicher Konstruktionsfehler.
Bereits hier würde eine Wettbewerbsjury abbrechen und den Kandidaten aus dem Wettbewerb nehmen.
Auch mit einem weiteren Kriterium wird es nicht besser: die Prozessqualität.
Denn die ist wirklich ein Skandal. Die Entscheidungsstrukturen und die Arbeitsprozesse sind so dilettantisch und lückenhaft, dass es ein Wunder ist, wenn Gebäude überhaupt fertiggestellt werden. Pöbelnde Bauleiter in schlecht vorbereiteten Besprechungen, frustrierte Angestellte in den Ämtern, Lokalpolitiker, die nicht entscheiden wollen und Verwaltungsgrenzen, über die die Städte schon hunderte Kilometer hinausgewachsen sind, sind Alltag in Deutschland. All das führt zu den Städten, in denen wir heute in der Regel gestresst und überfordert leben.
Fazit: die Immobilienwirtschaft würde, sollte sie die Vorprüfung überstehen, von jeder Jury gleich nach dem 1. Rundgang rausgeschmissen.
Aber der Veränderungsdruck wird in der arroganten Branche noch nicht einmal wahrgenommen. Die Geschäfte laufen ja gerade so schön. Wachstum bis zum Zusammenbruch.
Dieses Ungenügen an der aktuellen Situation wird nicht an den Monitoren einer beschaulichen Wettbewerbsjury ausgetragen, sondern auf den Straßen der Städte, in den Diskussionsforen und in den Wahlkabinen. Die Immobilienwirtschaft gleicht heute einem zufriedenen Truthahn, der immer mit bestem Getreide gemästet worden ist. Bis zum Abend vor Thanksgiving.