Die Kolumne. Eike Becker: "Handwerk", erschienen in Immobilienwirtschaft 10/2022

Die Kolumne. Eike Becker: "Handwerk", erschienen in Immobilienwirtschaft 10/2022

In diesem Sommer konnte ich im Süden Englands eine Gartenkunst bewundern, die sich über die Jahrhunderte das äußerst milde und feuchte Klima dort zu Nutze gemacht hat. Und mit der allergrößten Finesse und erheblichen finanziellen Mitteln vielfältigste Pflanzen eines weltumspannenden Imperiums um die dortigen Herrenhäuser versammelt hat. Die Baumfarne aus Neuseeland und die Mammut Blätter aus den Gebirgssümpfen Brasiliens stehen heute in den Schluchtengärten Cornwalls neben Zedern aus dem Libanon und Palmyrapalmen aus den tropischen Regionen Südindiens. Eine üppige, meisterhafte Gartenkunst, die unter den besonderen Bedingungen ihrer Zeit entstehen konnte. 

Doch ausserhalb dieser Gärten sieht die Welt ganz anders aus. In den strukturschwachen Ortschaften der Region stoßen  heutige „Builder“ allzu oft an ihre eng gesteckten Grenzen. Ich fand kaum ein Bed and Breakfast, in dem nicht kalte Feuchtigkeit die Aussenmauern hinaufsteigt, klapprige Schiebefenster mit einem Stöckchen notdürftig in Position gehalten werden und die marode Elektroverkabelung bei der nächsten Betätigung des Lichtschalters das Haus in Brand setzen könnte. Ich habe staunend vor Regenfallrohren gestanden, die offensichtlich mit dem Ziel der Kostenoptimierung und Zeitersparnis in geometrisch anspruchsvollen Installationen Kreuz und Quer über die Fassaden verteilt wurden. Wie konnten in einer Region, in der noch vor wenigen Jahrzehnten eine so virtuose Gartenkunst entstanden ist, heute einfachste bauhandwerkliche Ambitionen und Fertigkeiten nahezu gänzlich abhanden gekommen sein? 

1300 km weiter südöstlich, im Vorarlberg, Österreich, finde ich wenige Wochen später die Antwort. Da fehlen die Jahrhunderte alten Herrenhäuser und Landschaftsgärten. Doch die Dörfer, Höfe und Häuser sind in guter handwerklicher Tradition mit ihrer natürlichen Umgebung verbunden. Genau wie die historischen Holzbauten dort, zeugen ihre zeitgenössischen Nachbarn bis ins kleinste  Detail von einer liebevollen Solidität, gebaut für mehr als hundert Jahre. Als ich Willem De Bruyne, einen kenntnisreichen Kollegen vor Ort, nach den Gründen für dieses harmonische Bauen frage, nennt er die Kunstfertigkeit der ortsansässigen Handwerksbetriebe zuerst. Sie arbeiten eng mit den Architekten zusammen und haben einen großen Anteil an der offensichtlichen Qualität. Sie sind es, die das Wissen um Nachhaltigkeit und materialgerechte Verarbeitung kunstfertig in den Prozess einbringen. 

Und richtig, an den Rändern der Ortschaften sind sie leicht zu erkennen mit ihren großen Hallen. Die Zimmereien und Schreinereien, die Betriebe der Spengler und Putzer, die Elektriker und Maurer.

In diesem Silicon Valley der Handwerkskunst prägen sie mit ihrem hohen beruflichem Anspruch das kommunale Selbstverständnis und sind zentraler Bestandteil der regionalen Kultur. 

Zwischen diesen beiden Polen befindet sich zur Zeit das Bauen in Deutschland. Am Scheideweg.

Im Süden genießt das Handwerk noch einen guten Ruf. Die Betriebe können zunehmend auch in europäischen Nachbarländern wie etwa Großbritannien, Polen, den Niederlanden und Norwegen, Arbeit finden, nachdem dort strukturelle Defizite zum weitgehenden Verlust dieser Fertigkeiten geführt haben.

Dem dualen System der Berufsausbildung in Österreich, Deutschland und der Schweiz wird im europäischen Raum eine Vorreiterrolle attestiert. 

Doch dieser Weg, der noch von Richard Wagner in seiner Oper Die Meistersinger von Nürnberg verherrlicht wurde, passt nicht in das angloamerikanische Bachelor System und gilt heute völlig zu Unrecht als zweitrangige Ausbildung. Und so bleiben viele der angebotenen Stellen unbesetzt. 

Mehr Wertschätzung könnte helfen.

Die Bauindustrie setzt allerdings auf kostengünstige Akkordarbeiter aus Südosteuropa. Training on the Job. Dadurch wird der Unterschied zwischen den studierten Ingenieuren und den ungelernten Arbeitskräften auf der Baustelle noch größer. Die sprachliche Kluft ist häufig kaum zu überbrücken. 

In Frankreich, den Niederlanden und auch England ist bereits das Wissen um technisch einwandfreie Detaillösungen in der Breite kaum noch vorhanden. Nicht bei den ausführenden Firmen und auch nicht in den Architekturbüros. Weil die Planung und der Bau dort überwiegend den Generalunternehmern überlassen wird. Die steigen bereits kurz nach Beginn der Planung ein, „optimieren“ dann nach ihren Vorstellungen und vergeben die Arbeiten an mehr oder weniger ungelernte Lohnleister. 

Auch in Deutschland bemühen sich Generalunternehmer unter den Marketing Begriffen „Plan & Build“, „Bauteam“ oder „Construction Partner“ diesen Irrweg auszulegen. Sie versprechen, den Bauherren die Unwägbarkeiten des Bauens abzunehmen. Doch der Schein trügt. Kaum ein GU nimmt dem Bauherrn auch nur ein Fünkchen Risiko ab. Die Unternehmer optimieren zu Lasten der Bauqualität und schädigen damit die späteren Eigentümer. Vielen Bauherren fehlt ohne einen kenntnisreichen Architekten auf ihrer Seite das Wissen, um die eigenen Interessen erfolgreich einzubringen. Die Ziele verschieben sich zu Lasten der Werthaltigkeit und zu Gunsten einer kurzlebigen und teuren Umsetzung. Diese Fast Food Architektur geht in die falsche Richtung.

Umso wichtiger ist es, die Kräfteverhältnisse zwischen Planern, Bauherren und ausführenden Firmen so zu justieren, dass ein kenntnisreiches und verständnisvolles Miteinander auf Augenhöhe gegeben ist. Damit meine ich nicht nur höfliche und wertschätzende Umgangsformen. Es geht um faktisches Wissen, um Handwerkskunst, um Produktionsbedingungen und technisches Know-how.

Auch in Deutschland stehen heute viele Handwerksbetriebe unter Druck. Sie sind besonders häufig von ungenügenden Finanzierungsmöglichkeiten, Fachkräftemangel und Konkurrenz aus dem Ausland betroffen.

Ihre Innovationsfähigkeit ist deutlich schwächer ausgeprägt, als die der Industrie. Welcher Handwerksbetrieb hat schon eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung?

Dadurch hat sich das Handwerk in den letzten Jahren deutlich verändert. Die gesunden mittelgroßen Betriebe mit bis zu 50 Beschäftigten werden immer weniger, die Großbetriebe einerseits und Ein-Personen-Unternehmen andererseits nehmen zu. Bei den Großunternehmen ist der Übergang zu Industrie oder Handel fließend, der Bezug zum Handwerk und seinen Organisationen schwindet. Und die Soloselbstständigen sind in der Regel geringer qualifiziert. Sie können immer weniger die handwerklichen Qualitätsansprüche einlösen. 

Es ist mir unerklärlich, dass einfach dabei zugesehen wird, wie Stück für Stück die guten Handwerksunternehmen verschwinden und mit ihnen viel Wissen und Können von gutem Bauen verloren geht. 

Wie soll denn der Bestandserhalt und der ökologische Umbau bewältigt werden, wenn kaum einer reparieren, restaurieren, austauschen oder einbauen kann?

Kürzlich nahm ich an der Jurysitzung für den diesjährigen Innovationspreis teil. Die eingereichten Vorschläge wurden nach den Kriterien Neuigkeitsgrad, USP, Schutz vor Nachahmungen, Skalierbarkeit, Erfolgsaussicht sowie Nutzen für Umwelt und Gesellschaft bewertet. Es hat sich kein Handwerksunternehmen beteiligt. Wenn ich aber diese Kriterien auf die Arbeit von Handwerksbetrieben übertrage, liegen für sie die  Zukunftschancen in der Verbindung von digitaler, dreidimensionaler Planung (BIM plus) und handwerklich hochwertiger Vorfertigung. Das geht am besten in witterungsgeschützten Hallen, mit hervorragend ausgebildeten und bezahlten Handwerkern.

Das könnte Hoffnung machen auf eine Renaissance des Handwerks.