Die Kolumne. Eike Becker: "Bauwende", erschienen in Immobilienwirtschaft 03/2023

Die Kolumne. Eike Becker: "Bauwende", erschienen in Immobilienwirtschaft 03/2023

Während ich am Fuße des Ätna den Blick über die hügelige Landschaft und das Ionische Meer genieße, macht sich das kleine Weingut, auf dem wir Gäste sind, bereit für eine zweimonatige Winterpause. Das Konfetti der Silvesternacht ist bereits zusammengefegt, die letzten Gäste versammeln sich zum Frühstück im Garten. Die Zitronen-, Orangen- und Pampelmusenbäume tragen noch ein paar wenige Früchte, eine Taube gurrt unablässig aus der über hundertjährigen Pinie, ein Traktor entfernt sich knatternd. Hunde bellen im nächsten Tal. Die Sonne verbreitet mittags eine wohlige Wärme. Hier haben sich die Menschen an die Vulkanausbrüche, die heißen Sommer, den stinkenden Müll auf den löchrigen Straßen und einen eintönigen Tageslauf voller Langmut gewöhnt. 

Wie anders wirkt da Deutschland, dessen geistige Verfassung mir über meinen Bildschirm entgegen schäumt.

„Deutschland strauchelt in Richtung Zukunft. Was uns fehlt: Effizienz, ein Schuss Dynamik, eine gemeinsame Vision“, lese ich im Spiegel. Und die Welt zitiert Winfried Kretschmann mit „2023 ist der Kipppunkt für den deutschen Wohlstand“. 

Zu viel Bürokratie, hohe Steuerlast, sinkende Innovationsbereitschaft, hohe Energiekosten, Arbeitskräftemangel. Laut einer ZEW-Studie nimmt Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit weiter ab.

Und im neuen "Länderindex Familienunternehmen" belegt die Bundesrepublik nur den 18. Platz. 

Viele der Aussagen erscheinen mir auf den ersten Blick alarmistisch und damit übertrieben.

Aber wo steht denn gerade die Immobilienwirtschaft in Deutschland? Und was bedeutet das für die Städte und die Gesellschaft?

Einige Kommunen haben den beispiellosen Boom der Zehnerjahre genutzt und ihre öffentliche Infrastruktur instandgesetzt, bestehende Quartiere verdichtet und neue Sozialwohnungen gebaut. Die besser organisierten Städte haben an Qualität gewonnen und zu den lebenswertesten Städten der Welt aufgeschlossen. 

Bei weitem aber nicht alle. Viele konnten die überaus günstigen Rahmenbedingungen nicht nutzen. Ihr möglicher Erfolg wurde durch dysfunktionale Verwaltungen und überdehnte Entscheidungsprozesse verstolpert.

Ein Jammer! So sehen verpasste Chancen aus. Denn die Nullzins Phase ist Vergangenheit und wird vermutlich auch nicht wieder zurückkommen.

Zu den aktuellen Baukosten und Zinsen können selbst die hoch subventionierten kommunalen Wohnungsbaugesellschaften nicht mehr bauen. Schon gar nicht für eine Miete unter 10 Euro für den Quadratmeter.

Auch die börsennotierten Wohnungsbaugesellschaften haben im Wesentlichen ihre Bauaktivitäten eingestellt. Eine Aussicht auf wirtschaftlichen Erfolg mit Neubauvorhaben gibt es für sie zur Zeit nicht. 

De facto ist der Mietwohnungsbau damit zum Erliegen gekommen. 

Auch bei den Eigentumswohnungen führen die Zins- und Baukostenaufschläge zur Vollbremsung. Selbst mit dem Erbe der Oma kann sich kein Normalverdiener mehr eine eigene Wohnung leisten. Was für ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft.

So werden die 700.000 fehlenden Wohnungen nicht gebaut. Und in den Ballungsräumen werden die Mieten weiter steigen. Ohne Aussicht auf eine Wende zum Besseren. Denn die Ausweisung von günstigem Bauland im Außenbereich oder die zusätzliche Verdichtung im Inneren wird von den Kommunen nicht ausreichend angeboten. In den Verwaltungen gilt seit Jahren das Mantra: sowohl der Landverbrauch für Außenentwicklungen, als auch innerstädtische Verdichtungen sind Teufelszeug. Eine Pattsituation, die alle Beteiligten zur Tatenlosigkeit zwingt. Eine Tragödie. Und höhere Standards zur Erdbebensicherheit, zum Umgang mit Gefahrstoffen und zum Energieverbrauch werden gerade noch erarbeitet. Preiswert und einfach bauen geht dann eben erst recht nicht.

Soweit zum Wohnungsbau. 

Und was geschieht mit dem Bürobau? Dem steckt noch das Homeoffice in den Knochen. Mehr Flächen braucht zur Zeit keiner. Aber bei den Arbeitgebern setzt sich die Erkenntnis durch, dass sie attraktiver werden müssen, wenn sie die jungen Talente für sich gewinnen und die Kolleginnen und Kollegen wieder mehrheitlich ins Büro zurückholen wollen. Dazu zählt an erster Stelle eine gut erreichbare, schöne, ökologisch verantwortliche, kommunikationsfördernde Arbeitsumgebung.

Deshalb sehe ich Chancen für die ökologische und soziale Ertüchtigung des Bestandes. Immer mehr Büromieter überprüfen ihren CO2-Fußabdruck und suchen dafür förderliche Mietflächen. Die unsanierten  Dreckschleudern mit fossiler Energieversorgung können da nicht mehr mithalten und werden aussortiert.

Das deckt sich mit den Überlegungen der großen Bestandshalter. Wenn die weiter finanziert werden wollen, müssen sie ihr überaltertes Portfolio ESG tauglich machen. Dadurch können sie auch dem Abwertungsdruck etwas entgegensetzen. Denn die schönen Zeiten der geschenkten Gewinne durch jährliche Immobilienaufwertungen sind erst einmal vorbei. Heute müssen viele Gebäude wieder abgewertet werden. Das wird leider noch einige Quartalsberichte in Anspruch nehmen und sicher bis zum Ende dieses Jahres dauern.

Wenn das aber erledigt ist, können die Bewertungsverluste durch Immobilienverkäufe wieder ausgeglichen werden. Dann wird es auch wieder günstigere Gelegenheiten für Einsteiger und Opportunisten geben. So lange werden wir aber noch warten müssen. Weil die Immobilienpreise noch nicht an die aktuelle Marktsituation mit den höheren Zinsen und Baukosten angepasst sind, finden Käufer und Verkäufer nicht zusammen. Das Transaktionsvolumen ist eingebrochen.

So massiv, dass die Immobilienwirtschaft gerade eine Pause einlegt. Und viel Zeit hat. Diese Zeit muss sie nutzen, um über ihre Aufgaben und ihr Selbstverständnis nachzudenken. Sie muss klären, für welche ökonomischen, ökologischen und sozialen Ziele sie sich einsetzen will. Denn sie wird ihrer Funktion, ihren Aufgaben, die sie für die Gesellschaft zu erfüllen hat, in keiner Weise gerecht. Heute in der Krise noch viel weniger, als in den Boomzeiten. 

Wo ist die Roadmap hin zu einer klimaneutralen Immobilienwirtschaft? Wo sind die Vorschläge für kostengünstigen, sozialverträglichen, durchmischten Wohnungsbau? Digitalisierung? Verwaltungsreform? Verfahrensbeschleunigung? Standardreduzierung? Modulares Bauen? Resiliente Lieferketten? Cradle to Cradle? 

Auf all diese Fragen gibt es noch keine tatkräftigen Antworten. Spätestens dann, wenn die Wirtschaft wieder anspringt, müssen die Ziele aber klar formuliert und die Wege dorthin gefunden sein. Denn es reicht nicht mehr aus, im Kleinen Löcher zu stopfen und weiterzuwursteln. 

Deshalb brauchen wir jetzt kritische und offene Diskussionen in allen Verbänden, Ausschüssen, Unternehmen, Kammern, Institutionen, auf regionalen Konferenzen und Workshops, branchenübergreifend, unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Kräfte.

Also, lasst uns die Fakten auf den Tisch legen und klären, was jetzt zu tun ist. Und wer dafür zuständig ist. Wer ist für eine gelingende Stadtproduktion und Immobilienwirtschaft verantwortlich? So wie bisher geht es nicht weiter. Wir brauchen schnellere Fortschritte und größere Erfolge. Es ist die Aufgabe der Immobilienwirtschaft, dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft in der Welt lebt, in der sie auch leben will. 

Deutschland steht für freiheitliche Demokratie, Menschenrechte, Gleichbehandlung, Respekt und Toleranz. Es ist die gebaute Umwelt, in der diese Werte gelebt werden. Es ist höchste Zeit für die Immobilienwirtschaft, dafür Verantwortung zu übernehmen.

Mittlerweile ist die Sonne hinter dem Horizont verschwunden. 

Die Hunde im Nachbartal haben wieder zu bellen begonnen. In den Nächten gewinnt die winterlich kühle Erde wieder die Oberhand. Bei Dunkelheit kann man von unserer Terrasse aus gut die Flammen speiende Lava beobachten, die langsam den Ätna herunterfließt.

 

Die Kolumne. Eike Becker: "Bauwende", erschienen in Immobilienwirtschaft 03/2023