Eine neue Stadt
Im Winter 1991 waren auf dem Potsdamer Platz noch die Überreste der Grenzbefestigung der DDR zu sehen. In der Ruine des ehemaligen Luxushotels Esplanade fanden wir für unser kleines Architekturbüro die ersten, notdürftigen Räumlichkeiten. Neben uns stand noch das Weinhaus Hut. Die Leere zwischen den Plattenbauten im Osten und der Philharmonie im Westen wurde zu einem Möglichkeitsraum, der enorme Attraktivität ausstrahlte und Kreative aus der ganzen Welt anzog.
Heute enttäuscht das Ergebnis. Der Potsdamer Platz ist das Quartier der Konsumenten geworden, die ihre Ziele im weltweiten Netz der Besteller und Auslieferer verloren haben.
Heute ist das Berlin der Neunzigerjahre mit all den Baulücken, Freiflächen und großen Hoffnungen nur noch eine romantische Erinnerung.
Nach über 30 Jahren ist diese einst leer erscheinende Stadt dichter geworden und die hoffnungsvollen Blicke fallen auf das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Eine riesige Fläche, ein 355 Hektar großes, steppenartiges Gelände, die „größte innerstädtische Freifläche der Welt“.
Ein großer Teil der Ausstrahlung dieser großen Weite ist die Unfertigkeit und das Improvisierte, dem die Hoffnung auf eine noch unbekannte, bessere Zukunft innewohnt.
2011 gründete sich eine Bürgerinitiative mit dem Ziel, die zaghaften Bebauungspläne des Senats zu kippen. 2014 war der Volksentscheid mit deutlicher Mehrheit erfolgreich.
Die Suche nach Wohnraum in der Stadt hat die Diskussion um eine intensivere Nutzung dieser zentralen Lage wieder auf die Agenda gebracht. Dabei geht es nicht um Gentrifizierung, Wohnungsnot und sozial/kulturell heterogene Stadtteile allein, sondern um die Stadt als Ganzes.
Wenn Berlin offen bleiben und nicht ausschließlich zu der Stadt derjenigen werden möchte, die schon da sind und den wenigen, die sie sich leisten können, dann muss sie kontinuierlich neue Räume identifizieren, in die die Gesellschaft hineinwachsen kann.
Am Freitag Abend laufe ich über das Tempelhofer Feld. Die Sonne taucht die weite Grastundra in sanftes, wohlig warmes Licht, eine Feldlerche steigt zirpend und trillernd in den Himmel und markiert ihr Revier. Viele Menschen genießen ihren Feierabend, kicken, boxen, tanzen Flamenco, picknicken oder radeln, rollern und skaten über die ehemalige Landebahn. Die Verleiher von Segways und Go Carts machen in ihren Buden ein gutes Geschäft.
Auch eine Geburtstagsgesellschaft hat hier ihren Platz mit Luftballons abgesteckt.
Die vor ihrem Aufbau intensiv umkämpften Container für Geflüchtete sind mittlerweile wieder leer gezogen. Brennnesseln, Knöterich und Beifuß haben sich den Raum hinter den großflächigen Absperrungen zurückerobert.
Diese weite Fläche verkörpert für mich die Gesellschaft der Individualisten, die eigentlich nichts weiter miteinander zu tun haben wollen und in ihrem Selbstbezug einsam geworden sind. Schöne, zumeist junge Menschen, die ihr Ding machen, mit viel Platz um sich herum und viel Abstand zu den anderen Grüppchen.
Das leere Gebäude und die riesige, freie Fläche davor stehen für eine Gesellschaft ohne Ideen und Ansprüche über den Tag hinaus.
Mir geht es aber genau um diese Ideen. Die verbindenden Visionen einer Gesellschaft, die Bilder von sich und ihrer Zukunft entwickelt und nach ihrer Realisierung strebt.
Das Tempelhofer Feld könnte zum Symbol für diese sich neu erfindende Stadt werden.
Für die, die bereits da sind und für die, die kommen. Ich sehe Berlin als offene Stadt, die gastfreundlich ist, als eine Willkommensstadt. Das Tempelhofer Feld könnte ein neuer Stadtteil werden. Ja, eine Stadt, in der die Straßen und Plätze nicht für Autos, sondern für Menschen gemacht sind. Eine Stadt, in der die Penthäuser nicht für Vermögende, sondern für die Wurzeln der 20.000 Bäume reserviert sind, die dort wachsen. Eine Stadt, in der die Dächer nicht für die Haustechnik vergeudet werden, sondern für einen über Brücken und Stege verbundenen, riesigen Park aus tausend Dachgärten. Ein Gebirge aus den Gärten dieser Welt, die allen zur Verfügung stehen und Aussichten bieten, weit über Berlin hinaus.
Eine Stadt, die abwechslungsreiches, urbanes Leben mit lässigem Landleben verbindet. Eine Stadt, in der die Bürgersteige und Plätze für Kinder zum Spielen im Sand gemacht sind und für Jugendliche zum Ballsport und Ältere zum Boule und für Markthallen mit frischem Obst und Gemüse aus der Region. Eine Stadt, die nicht nur wenigen, sondern allen gehört. Auch denen, die noch gar nicht da sind. Eine Stadt, die eine Welt für Menschen, Tiere und Pflanzen vorlebt, die auch noch für die nächste, übernächste und überübernächste Generation zur Verfügung steht. Eine Stadt, die zeigt, wie das auch aus Holz gemacht werden kann und wie das alles klimaneutral produziert, gebaut und gelebt werden kann. Eine Stadt der freundlichen Menschen, die sich füreinander einsetzen, Anteil nehmen, sich respektvoll umeinander kümmern und ihre Freizeit miteinander verbringen, in den Parks und Straßen und Plätzen, die kaum noch Ähnlichkeiten aufweisen mit den asphaltierten, lebensbedrohlichen Straßen und versiegelten Plätzen, die wir kennen. Eine Stadt, in der Platz ist für die unterschiedlichsten Wohn-, Freizeit- und Arbeitsbedürfnisse.
Eine Stadt, die den Raum bietet auch für so anspruchsvolle Modellprojekte, wie das bedingungslose Grundeinkommen.
Und eine Stadt, in der die Unternehmen ihr Wirtschaften auf das demokratisch definierte Gemeinwohl ausrichten.
Beides Ideen, die die Welt zum Besseren verändern könnten. Ein Versuch ist es allemal wert.
Ist das mit den schütteren Verwaltungsstrukturen und den langsamen politischen Prozessen zu schaffen, die das heutige Berlin hervorgebracht haben? Die sich mit einem viel zu furchtsamen Ansatz auf dem Tempelhofer Feld gerade noch eine flache Randbebauung um eine große Grünfläche im Zentrum zutrauen?
Ist das mit den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften zu schaffen, die gerade ihre Ansprüche massiv unterlaufen?
Mit den fehlgeleiteten Finanzstrukturen, die die heutige Immobilienwirtschaft so stark prägen?
Mit den Bürgerinitiativen, die dafür gesorgt haben, dass Stillstand das erklärte Ziel ist?
Mit den Versorgern für Strom, Wasser und Infrastruktur, die am liebsten die fossilen Geschäftsmodelle noch lange weiter betreiben würden?
Wie kommt es, dass so viele motivierte und hervorragend ausgebildete, kluge Menschen ihre Potenziale so dramatisch unterlaufen?
Es liegt an den Strukturen und Prozessen. Die müssen verändert werden. Indem die Road Blocks innerhalb der einzelnen Systeme identifiziert und beseitigt werden.
Indem sich die beteiligenden Gruppen in einem moderierten Verfahren für die Bedürfnisse der anderen öffnen. Indem das auf Augenhöhe geschieht, mit Neugierde und ohne Angst Fehler zu machen. Mit einer Offenheit für neue Ideen und Experimente.
Dann könnte auf dem Tempelhofer Feld ein Stadtquartier entstehen, ein herausragend guter Lebensraum für viele Menschen, Tiere und Pflanzen, eine sich immer wieder erneuernde Modellstadt für das tägliche, gute Zusammenleben aller.
Das geht mir durch den Kopf, während ich diese wundervoll vielfältigen Individuen in der untergehenden Sonne an diesem milden Sommerabend auf der weiten großen Fläche beobachte.
Die gar nicht ahnen, wie einflussreich, ja, mächtig sie sein könnten, wenn sie sich zusammentäten. Wenn sie das viele Wissen, was es gibt, nutzen würden, um eine gute Stadt für ein gutes Leben für alle zu bauen. Nicht nur in Simulationen, Vorstellungen und Träumen. In der realen Welt.
Wer traut sich das?