Am Abend des 13.Juni 2020 beobachtete mein Onkel ein herannahendes Gewitter. Es kam näher und näher, bis vor seinen Augen ein Blitz über die Wetterfahne und die Regenrinne in unser altes Hofgebäude einschlug. Die freiwilligen Feuerwehren der Umgebung kamen zwar innerhalb von 15 Minuten, aber das war schon zu spät.
Nach den Aufräumarbeiten, ein Jahr später, steht nur noch der Bruchsteinsockel aus dem 18. und ein bisschen verkohltes Fachwerk aus dem 19. Jahrhundert.
Mein Vater wohnt bereits seit der Wende wieder in seinem Geburtsort. Ohne besondere Leidenschaft habe ich ihn gerne dort besucht. Immer mal wieder habe ich eher halbherzig mit dem Gedanken gespielt, den leerstehenden Hof neben seinem Geburtshaus wieder zum Leben zu erwecken. So verging die Zeit.
Aber als ich vor der Ruine stand, wurde mein Blick auf dieses ramponierte Dörfchen liebevoller und ich begann mich genauer mit den dortigen Realitäten zu beschäftigen.
Der Ort hatte es in seiner jahrhundertealten, ereignisarmen Geschichte gerade auf 150 Einwohner und eine Handvoll Höfe gebracht. Zusammen bewirtschafteten sie nicht mehr als 250 ha. Aber in der Mitte stand eine Kirche, es gab die Brauerei, eine Gärtnerei, eine Ziegelei, einen Kaufladen, das Standesamt wurde vom Bürgermeister ausgeübt und die Kneipe der Familie Winter gab es natürlich auch. Vor Ort war Arbeit für Schmiede, Zimmerer, Maurer und Korbflechter. Das soziale Leben war abwechslungsreich und vielfältig.
So ein Hof konnte mit all seinen Tieren, Gärten, Feldern und Gerätschaften 30 Personen in einfachem Lohn und Brot halten.
Heute gibt es im Dorf noch 90 Einwohner und einen einzigen Landwirt. Der bewirtschaftet mit genau zwei Angestellten 400 ha und konkurriert um die landwirtschaftlichen Flächen der Gegend mit der ehemalige Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in Prießnitz (5000 ha) und der Milchviehanlage in Mohlau (etwa 1500 ha).
Die Brauerei wurde bereits in den 30er Jahren geschlossen, später die Kneipe, die Ziegelei, die Gärtnerei, die Poststelle, die Schmiede und der Kaufladen. Die Kirche wurde 1976 wegen „Baufälligkeit und fehlender finanzieller Mittel“ abgerissen.
Und jetzt ist auch noch eines der wenigen historischen Häuser mitten im Dorf abgebrannt.
Belebende Impulse müssen auch von außen kommen. Der neugebaute Fahrradweg, auf der stillgelegten Zucker Bahntrasse von Zeitz nach Camburg macht Hoffnung. Der ist Teil der 183 km langen Saale-Unstrut-Elster-Rad-Acht, die wiederum mit dem Ilm Tal, dem Saale Tal und vielen anderen überregionalen Radwegen verbunden ist.
Seidewitz ist aus einem slavischen Rundling hervorgegangen und befindet sich auf einem Ausläufer der Ilm-Saale-Platte des thüringischen Schiefergebirges, im Südosten Sachsen-Anhalts, an der Grenze zu Thüringen.
Die sanften Hügel wechseln sich mit beschaulichen Tälern ab. Die Raps-, Hopfen- und Getreidefelder und die Weinberge zeugen von überaus fruchtbaren Böden. Das Saale-Unstrut-Tal mit seinen Naturschutzgebieten oder das nahe Wethautal sind nur zwei Beispiele dieser überwältigend schönen Landschaft. Aber die Jungen ziehen zum arbeiten in die Zentren, die Alten bleiben zurück und mit ihnen vergehen die Dörfer.
In dieser Situation fällt es mir schwer, eine positive Zukunft zu entwerfen.
Aber eine gute Utopie stellt die richtigen Fragen und weißt den Weg zu Veränderungen.
Überrascht stelle ich fest, daß Seidewitz mitten in der neugeschaffenen Metropolregion Mitteldeutschland liegt. Sie umspannt als zentralen Kern den Ballungsraum Leipzig-Halle-Jena-Gera. Zu ihren Mitgliedsstädten zählen zusätzlich Chemnitz, Zwickau, Dessau und Naumburg mit insgesamt 6 Millionen Einwohnern im Umkreis von 100 km.
Diese Städte bieten heute eine Lebensqualität, wie sie sie vermutlich noch niemals zuvor besessen haben. Mit ihren großartigen Kulturangeboten, ihrer herausragenden Architektur und ihren kreativen Gesellschaften haben sie es in die Spitzengruppe der Städte mit einer hohen Lebensqualität geschafft. Nur hat das vor Ort noch kaum jemand verstanden.
Die Gegend um Seidewitz ist typisch für viele andere Regionen in Deutschland. Die Trennung von Stadt und Land ist ökonomisch, politisch und gesellschaftlich noch sehr präsent. Aber in der Vernetzung von ländlichen und urbanen Räumen liegt die Lösung für viele der heutigen Probleme. Die Fokussierung auf Stadt- oder Landflucht hat zu einer missverständlichen Polarisierung in der Diskussion um eine gerechte Gesellschaft geführt. Die Stärkung der Peripherie wird zu einer Entlastung der hoch verdichteten Zentren führen.
Jenseits der Träume vom Einfamilienhaus und der sozial-ökologischen Romantik einiger Großstädter liegt die Zukunft. Es geht um attraktive und lebendige, größere und kleinere Städte, Ortschaften und ländliche Räume, die real und digital gut miteinander verbunden werden müssen. Diese Aufgabe geht alle an. Wer das Vertrauen und den Respekt der Landbevölkerung verliert, wird politisch und kulturell auch die Städter verlieren. Die Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten sind bereits zu groß.
Viele in der Immobilienwirtschaft konzentrieren ihren Enthusiasmus und einen großen Teil ihrer Lebensenergie auf den Wettbewerb um Aufträge und Grundstücke in den wenigen zentralen, urbanen Lagen. Da drängeln sich alle.
Sie könnten stattdessen Patenschaften für Dörfer übernehmen und ihre Erfahrungen dort einbringen, wo sie zum Wohle der Gemeinschaft so viel mehr bewirken würden.
Was wäre, wenn das ganze Wissen über gute Städte und gutes Leben auch den Dörfern zur Verfügung stünde und dort Anwendung fände?
Wenn die Innerörtliche Verdichtung einfach die vorhandene Infrastruktur nutzt und Baukultur die Nachbarn zusammenbringt und den Gemeinschaftssinn fördert.
Wenn Planungswerkstätten und Reisen zu Referenzprojekten die Möglichkeiten für die Gemeinde und für potentielle Bauherren veranschaulichen.
Initiativplanungen sind eine entscheidende Grundlage für die Entwicklung von Zukunftsperspektiven. Denn erst eine langfristige, strategische Planung kann gezielt vorhandene Fördermittel einwerben.
So etwas wird nicht ohne die Unterstützung von Bund und Ländern möglich. Denn die Immobilienwirtschaft ist auf dem Lande nicht zu finden. Ihre Strategien lassen sich hier zur Zeit kaum anwenden. Es gibt weder eine dynamische Bodenwertsteigerung für Bauland, noch werden die Immobilien hier auf absehbare Zeit bedeutend mehr wert sein. Land und Baurecht sind so ausreichend vorhanden, dass noch keine Verknappung zu Spekulationsgewinnen führen kann.
Hier geht es nicht um das schnelle Geschäft und den raschen Weiterverkauf. Hier muss man bleiben, um Werte zu schaffen. Auch zum Beispiel durch den Betrieb der Gebäude und die Schaffung fehlender Arbeitsplätze.
Seidewitz mit seinem Bachlauf und den Wiesen, Feldern und Wäldern ist der Lebensraum einer vielfältigen Flora und Fauna.
Mehlschwalben bauen ihre Nester unter den Dachvorsprüngen, Turmfalken haben ihren Horst in der Steinwand der Südscheune, Nachtigallen singen in den Eschen am Bach, Frösche, Kröten und Molche laichen im Ententeich, verborgen unter Gestrüpp liegt ein Fuchsbau. An der östlichen Seite der Scheune haben hunderte von Hummeln, Wespen und Bienen ihre Nisthöhlen in die Lehmwand gegraben.
Viele von ihnen waren bereits hier, als es das Dorf noch gar nicht gab.
So habe ich mich entschieden, das abgebrannte Gebäude wieder aufzubauen.
Die Suche nach einer gemeinsamen Zukunft ist alle Mühen wert.