Die Kolumne. Eike Becker: "Einhundert Tage", erschienen in Immobilienwirtschaft-Ausgabe zur Expo Real

Die Kolumne. Eike Becker: "Einhundert Tage", erschienen in Immobilienwirtschaft-Ausgabe zur Expo Real

Mittlerweile sind zwei unserer Kinder zu Erstwählern herangereift. So sitzen beim Abendessen zur Zeit

YouTuber, Werbespots und Fernsehauftritte der KandidatInnen mit am Tisch. „Was würdest du machen, wenn du Bundeskanzlerin wärst?“ ist bei uns zu einer spannenden Frage geworden.

Leider haben Wahlkampf-Runden im Fernsehen so gar nichts Persönliches. Auch auf beharrlich bohrende Fragen folgen Antworten, die im Ungefähren bleiben. Mietendeckel, bezahlbare Wohnungen, „bauen, bauen, bauen“, „Zuständigkeitswirrwar“, „Elektroautos ohne Jobverluste“ bilden die Eckpfeiler der Diskussionen.

Politiker haben es im Kreise ihrer Parteien und Marketing Abteilungen nicht einfach. Ich bewundere ihre Nehmer-Qualitäten und möchte nicht tauschen. 

Aber in der vergangenen Legislaturperiode ging im Bauen nicht besonders viel voran. Die Klimaziele wurden verpasst, die Bodenpreise und Mieten sind in den Städten durch den Deckel gegangen und Genehmigungen brauchen länger als der Bau selbst. Deshalb entstanden die erforderlichen Wohnungen nicht. Auch die menschengerechte Mobilität steckt im Stau. Der soziale Friede ist in Gefahr. 

Da kam das Ettersburger Gespräch für mich zum rechten Zeitpunkt. Mit dem Ziel, Bauen neu zu denken, versammelte die Bundesstiftung Baukultur, diesjährig zum 13. Mal, fünfzig Erfahrene aus Politik, Verwaltung, Planung und Wirtschaft. 

Meinem kurzen Vortrag habe ich die hypothetische Vorstellung zugrunde gelegt, ich sei in einer neu gewählten Regierung als Bauminister für die gebaute Umwelt zuständig. Und beantworte die Frage, welche Maßnahmen ich in den ersten 100 Tagen nach der Wahl durchsetze.

Ich werde die Klimakrise und die soziale Schieflage ähnlich einer Art Pandemie, als eine Bedrohung für alle sehen, die unverzüglich und entschieden abgewendet werden muss.

Klingt vermessen? Möglicherweise, aber für beide Themen müssen in der kommenden Legislaturperiode die Entscheidungen umgesetzt werden, die die Wege zu Lösungen vorgeben.

Also, das sind meine Maßnahmen für eine bessere Welt in 100 Tagen:

Als erstes muss ein eigenständiges Bauministerium her, das den enormen Anforderungen auch gerecht werden kann. Das Ministerium, das für die gebaute Umwelt zuständig ist, kann kein Anhängsel des Polizeiministers sein. Nachhaltigkeit und Klima, Infrastruktur und Mobilität, Wohnen, Stadtentwicklung und Raumplanung können nur zusammen gedacht und umgesetzt werden. Das geht nur mit einer nationalen, ja internationalen Stadtentwicklungspolitik. Denn ohne gute Städte gibt es kein gutes Leben.

Deshalb werde ich ein Bewertungssystem für Städte und Gemeinden einführen. Klingt lahm? Warum soll das so wichtig sein?

Das ESG Rating der Europäischen Union ist mittlerweile eine extrem einflussreiche Initiative. Mit Hilfe von Forderungen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung sollen in der EU die Grundsätze von Nachhaltigkeit, Respekt und Transparenz von den Unternehmen umgesetzt werden.

Die gesamte Immobilienbranche rotiert gerade um die eigene Achse, um mit ihrem jeweiliges Rating zum TopScorer zu werden. Das betrifft Investoren, Versicherungen und Pensionskassen, die ihre Emissionsmonster loswerden wollen, um neue, saubere Gebäude zu erwerben. Aber auch große Arbeitgeber mieten nur noch Immobilien mit TopRating. Selbst die Stahl- und Zementindustrie will plötzlich ihre Emissionen senken. Abra kadabra! Da ist die Klimawende auf der Baustelle.

Auch die Städte können dadurch transparenter, vergleichbarer werden und noch viel besser voneinander lernen.

Punkte, die zu einem positiven Rating und damit zu Fördermitteln führen, gibt es z. B. für aktive und weitsichtige Stadtplanung.

Verwaltungen müssen Strategien entwickeln, wie sie in 10, 20 und 50 Jahren aussehen wollen. Wie sie es schaffen, auf gleichem Territorium doppelt so vielen Einwohnern ein gutes Leben zu ermöglichen. Wie ihr Weg zur Klimaneutralität aussieht. Und wie sie Schritt für Schritt zu einer menschenfreundlichen Mobilität gelangen.  

Deshalb gibt es für kompaktere und gemischte Innenstädte auch ein besseres Rating. Die Traufhöhe wird außerhalb der Altstädte deutlich erhöht, die Abstandsflächen reduziert und die Mehrwerte dafür abgeschöpft. Mit dem Geld werden günstige Wohnungen gebaut. Und die öffentlichen Räume in Spielplätze für alle Generationen gewandelt. Denn wir spielen zu wenig. Diese Eingriffe und Maßnahmen führen auch zu durchmischten, freundlichen Quartieren. 

Mit einem einzigen Bebauungsplan wären dadurch schlagartig genug Flächen vorhanden, die Bodenpreise fallen und die Mieten sinken. 

Drittens werde ich das Baurecht ändern.

Das ist zur Zeit Ländersache. Und die regeln Abstandsflächen, Brandschutz, Stellplätze, Sicherheitsvorschriften und Barrierefreiheit  jeweils unterschiedlich.

20.000 zu beachtende Gesetze, Verordnungen und DIN-Normen haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten vervierfacht. Die unterschiedlichen Anforderungen erschweren eine länderübergreifende Standardisierung und müssen harmonisiert und halbiert werden.

Dafür müssen Graue Energie und Emissionen während des gesamten Lebenszyklus berechnet, geplant und genehmigt werden. Das führt auch zu Holz aus nachhaltiger Forstwirtschaft.

Die Bauordnungen müssen für hohe Häuser aus Holz angepasst werden. Diese Form der Modulbauten haben eine hohe Vorfertigung und senken auf Dauer die Baukosten.

Wer nicht mit Holz baut, forstet auf und verbessert so sein Rating. 

Auch für einfachere Gebäude mit weniger Technik (nicht mehr als 20% der Hochbaukosten) gibt es Pluspunkte. Was nicht eingebaut wird, muss nicht hergestellt, nicht gewartet, wieder ausgebaut und erneuert werden.

Viertens muss der Genehmigungsstau in Deutschland aufgelöst werden. Bauanträge und Bebauungspläne brauchen bis zu ihrer Genehmigung oder Planreife länger als Doktorarbeiten. Die Behörden sind vielfach überfordert und haben Schwierigkeiten, die offenen Stellen zu besetzen.

Also, so geht‘s: Statik und Brandschutz werden seit Jahren erfolgreich durch freischaffende Gutachter geprüft.

Das geht auch für Bauanträge als Ganzes. Die hoheitlichen Aufgaben sollten weiterhin durch die Behörden erfolgen, aber die Bauanträge können von gutachterlich bestellten, freien ArchitektInnen schnell und kostengünstig geprüft werden. 

Auch das noch: nach dem Deutschland-Index der Digitalisierung 2021 bieten nur 4 % der Kommunen digitale Bauanträge an.

Die vereinfachen und beschleunigen den Genehmigungsprozess aber deutlich.

In einem nächsten Schritt werden Bauanträge als 3D BIM Modelle eingereicht. Diese sind dann durch entsprechende Software vorgeprüft. Flächenberechnungen, Stellplätze, Abstände, aber auch Graue Energie, Emissionen und Biodiversität werden schon im Planungsprozess abgefragt und können deshalb ohne großen Aufwand genehmigt werden.

Im Gewehrsaal des alten Ettersburger Schlosses erhalte ich für meine Ersten 100 Tage höflichen Applaus. Aber in der anschließenden Diskussion werden wieder die bereits vorformulierten Argumente vorgetragen. Wir „bauen bereits Spielplätze“ (Wohnungswirtschaft), „Holz als Baustoff ist nicht ökologisch“  (Betonwirtschaft), „wir sollten aufhören zu bauen“ (Hausbesitzer in der Innenstadt), „wir brauchen weniger Eitelkeiten“ (Staatssekretärin).

So einfach und persönlich ist Politik vielleicht doch nicht.

Auf dem Weg nach Hause, im Zug, tröste ich mich mit der Erkenntnis, dass auch Koalitionsparteien zumeist erst durch den willentlich herbeigeführten Entzug von Schlaf in Marathonverhandlungen zusammenkommen. 

Zuhause am Küchentisch setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Klimakatastrophe und der soziale Frieden scheinbar immer noch viel zu vielen keine schlaflosen Nächte bereiten. 

 

Foto: Ettersburger Gespräch 2021, © Axel Clemens für die Bundesstiftung Baukultur