Die Kolumne. Eike Becker: "Quartiere", erschienen in Immobilienwirtschaft 9/2021

Die Kolumne. Eike Becker: "Quartiere", erschienen in Immobilienwirtschaft 9/2021

Gerade noch haben wir eine heftige Diskussion erlebt, die später zum größten Fuck Up Moment unserer Familienreise gewählt werden sollte. Vordergründig ging es ums Aufräumen, aus der Elternperspektive auch um ein aufmerksames, zugewandtes Miteinander.

Auf dem Dach der Cité Radieuse war unsere Teenager Eltern Verbundenheit noch nicht ganz wiederhergestellt, aber mit dem Blick über die Stadt, das Mittelmeer und die Berge fanden wir wieder zu einer entspannten Lässigkeit. 

Dort oben ragen die beiden Schornsteine, die Bühne des Freilichttheaters und die kleine Sporthalle wie eine wundervoll poetische Skulpturensammlung in den tiefblauen, mediterranen Himmel. 

Le Corbusier baute von 1947-52 in Marseille seine erste Unité d‘habitation. Auf riesigen Betonstützen, Pilotis, entwarf er über 330 Maisonette Wohnungen mit Ladenpassage im Obergeschoss, Ateliers, Bibliothek, Restaurant, Hotel, Wäscherei und einem Kindergarten oben auf dem Dach. Eine vertikale Stadt.

Das war bereits vor 70 Jahren, vor drei Generationen, nach dem Krieg, als viele Geflüchtete in die Städte strebten und wieder einmal Wohnungen gebraucht wurden. So viel Kraft steckt in diesem Gebäude, so viel Utopie und Vision! Auf der Dachterrasse bin ich geradezu schockiert von der Radikalität und Willenskraft seiner Ideen. 

Einiges hat nicht funktioniert. Der schöne Garten um das Gebäude ist heute mit hunderten von Autos zugeparkt. Und der Spielplatz auf dem Dach wird auch nicht mehr von Kindern bevölkert, sondern von Besuchern, die sich in einem kleinen Museum schöne Stühle anschauen. 

Das Restaurant tut sich im dritten Obergeschoss zwar schwer, serviert aber heute noch Aperol Spritz auf der Terrasse. Auch die Läden sind noch geöffnet und verkaufen Souvenirs an die Touristen. Das Gebäude ist mittlerweile wieder ansehnlich saniert und wurde 2016 in die Weltkulturerbeliste aufgenommen. 

Dabei stellt sich für mich die Frage, was hindert heutige Planer eigentlich daran, ähnlich visionär zu sein und bessere Quartiere zu bauen? Was sind die Fuck up Momente, die heutige Planer erleben? Und wie könnte es besser gehen?

Zaghaftigkeit

Anders als nach dem zweiten Weltkrieg kann ich trotz der vielen aktuellen Möglichkeiten keine Aufbruchstimmung erkennen. Die enormen Chancen, die unzweifelhaft in den großen Umbrüchen vorhanden sind, werden auf allen Ebenen viel zu zaghaft genutzt. Die meisten sind mit dem Kümmerlichen, wie es ist und was angeboten wird, zufrieden.

Quantitäten

Deshalb geht es heute bei der Errichtung von Quartieren sowohl bei den privaten als auch bei den öffentlichen, Entwicklungsgesellschaften, vorrangig um Quantitäten. Um die Anzahl der Wohnungen, die errichtet werden und ihre Kosten. Für die privaten Entwickler möglichst so, dass sie gerade noch als Eigentumswohnungen für die höchsten Preise verkauft werden können. Für die öffentlichen Entwicklungsgesellschaften so, dass sie nach Sozialwohnungen aussehen, damit keiner auf die Idee kommt, es könnte ja zu viel öffentliches Geld ausgegeben sein. Das muss sich aber ändern.

Heimat

Denn es sind Quartiere, in denen Menschen zusammenleben, miteinander arbeiten und spielen. Hier entsteht Nachbarschaft, und das Gefühl zu Hause zu sein, beheimatet zu sein. Die Quartiere sind für die zeitgenössischen Gesellschaften die Suppenküchen, in denen Zugehörigkeit und Freundschaften entstehen und Vertrauen in die politischen Zusammenhänge wächst. Wenn das nicht hier gelingt, funktioniert es auch im größeren Maßstab nicht. 

Dichte

Dazu müssen die heutigen Quartiere dichter werden. Es erfordert einfach mehr Menschen, um regelmäßige Begegnungen zu ermöglichen. Über die Jahre, in denen Licht, Luft und Aussicht wie bei Le Corbusier die entscheidenden städtebaulichen Parameter gewesen sind, wurden die Stadtteile  immer luftiger und zufällige menschliche Begegnungen immer seltener. Vielfache Vereinsamung und Depressionen sind die Folgen dieser Fehlentwicklung. Kleinere Restaurants, Cafés und Dienstleister, in denen Menschen sich treffen könnten, können sich nicht ansiedeln, wenn zu wenige Kunden vorbeikommen. 

Nutzungsmischung

Auf der Ebene der Quartiere können ökologische, ökonomische und soziale Fragen deutlich besser gelöst werden, als in Einzelgebäuden im kleineren Maßstab oder in der Stadt im größeren. Genau hier kann die Umgebung geschaffen werden, die ein gutes Leben für alle ermöglicht. Hier können Nutzungsmischungen deutlich leichter umgesetzt werden, als in einem Einzelgebäude. So kann Wohnen, Arbeiten, Ausbildung, Produktion, Verkauf und Reparatur enger zusammenrücken, ohne komplizierte Eigentumsstrukturen zu erzeugen. 

Mobilität 

In guten, durchmischten Quartieren, können viele Fahrten mit dem PKW vermieden werden. Weil innerhalb von 15 Minuten Reichweite Einkaufsmöglichkeiten liegen, der Arbeitsplatz erreichbar ist, der Kindergarten, das Café oder das Gym. Darüber hinaus gehören PKWs, wenn überhaupt, in Garagen an die Ränder. Die öffentlichen Räume bleiben so den Menschen, Tieren und Pflanzen vorbehalten. Das hat Le Corbusier noch anders gesehen.

Ökologie

Erst in der Verbindung von Immobilen und Mobilen lässt sich Klimaneutralität erreichen. Sowohl die lokale Energieerzeugung, als auch deren Speicherung, in den Batterien der Fahrzeuge zum Beispiel, können dazu beitragen. Auch stationäre Sharing Angebote zum Arbeiten oder Übernachten, für Lastenräder, Scooter oder PKWs können helfen.

Immer wieder wird in Diskussionen nach den Road blocks, den Fuck up Momenten gefragt, die verhindern, dass die Quartiere besser werden. 

Es ist der giftige Cocktail aus zu vielen und zu starren, häufig auch unsinnigen, von Furcht getriebenen Strukturen (Scheinpartizipation) und Vorschriften (zu Stellplätzen, Brandschutz, Nutzungen, Lärm, Abstandsflächen, Traufhöhen, uvm.), zu langen Genehmigungszeiträumen (unterbesetzte, unterqualifizierte, ungeliebte Ämter) und Organisationsformen, die zu unsinnigen Priorisierungen führen (Quantitäten statt Qualitäten, Eigensinn statt Gemeinwohl). 

In einer Ebene darüber fehlt es zumeist an gesellschaftlichen, urbanen Visionen. 

Die Nachfolger von Le Corbusier, die zeigen, wie es besser geht, habe ich in Aarhus getroffen. Dort wird der ehemalige Hafen zu einem neuen Stadtquartier umgebaut. Die Gebäudehöhen reichen von eingeschossigen Holzschuppen,  bis hin zu 140 m Hochhäusern. Getreppt, mit großen Aussichtsterrassen, begrünt und bevölkert. Auch ein Generationenhaus, ein Schwimmbad im Hafenbecken, eine Segelschule, ein Wassersport Center und ein Theater finde ich dort dicht nebeneinander. Weil vieles noch unfertige Baustelle ist, Aarhus aber auch in diesem Stadium der Entwicklung nicht auf Kneipen, Bars und Restaurants verzichten will, sind die schon mal provisorisch in Containern untergebracht. Le Corbusier 2.0.

Wie dasselbe auch in einer Altstadt geht, sehe ich zwei Kilometer weiter südlich. Das in die Jahre gekommene Kaufhaus Salling in der Fußgängerzone wurde mit Restaurants, Cafés, Gärten und einer Bühne auf dem Dach mit Blick über die ganze Stadt zu neuem Leben erweckt. 

Zu verdanken hat Aarhus das ihrem Architekten Stephen Willacy. Der charismatische Brite lenkt hier seit 2012 die urbanen Geschicke erfindungsreich und visionär. Einen innovativen, begeisternden Architekten zum Stadtarchitekten zu ernennen und ihm oder ihr auch Einfluss zu gewähren, erscheint mir eine gute Idee.

Le Corbusier hätte das vermutlich gefallen.

Alles Bauen ist für Menschen gemacht. Sie streiten und vertragen sich auch wieder. Und lieben nichts mehr, als zusammenzukommen und gemeinsam unterwegs zu sein. 

Das geht so viel besser in lebendigen und freundlichen Quartieren.